Çağdaş Eren Yüksel ist Filmregisseur, sein Großvater kam in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Sein 2021 erschienener Dokumentarfilm „Gleis 11“ ist eine Hommage an die erste Generation der "Gastarbeiter:innen". Im Interview erklärt er, wieso ihre Geschichten in die erste Reihe der Medienlandschaft gehören.
Safiye Can und Hakan Akçit: Lieber Çağdaş du bist Filmregisseur, Filmproduzent und Preisträger des Kultur- und Kreativwirtschaftspreises der Bundesregierung. Die Premiere deines Dokumentarfilms "Gleis 11" über die Migrant:innen der ersten Generation aus der Türkei fand Anfang dieses Jahres im Essener Lichtburg statt. Wie entstand die Idee zu deinem Film?
Çağdaş Eren Yüksel: Ich glaube, die Idee für diesen Film habe ich ein Stück weit schon immer mit mir getragen. Ich habe meinen Opa nie kennengelernt – noch bevor meine Eltern sich kannten, verstarb er in Folge eines Verkehrsunfalls in Deutschland. Ich habe mich aber zunehmend gefragt, was wohl gewesen wäre, wenn er in den 1960ern nicht nach Deutschland gekommen wäre. Ob ich dann heute hier wäre. Und ob ich dann heute ich wäre. "Gleis 11" ist mein Versuch, darauf eine Antwort zu finden – und meinem Opa und der ersten Generation der Gastarbeiter:innen ein Stück weit näher zu kommen.
In deinem Film begleitest du einige Tage lang Menschen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen, sogenannte Gastarbeiter:innen der ersten Generation. Wie gestalteten sich die Vorbereitungen und die anschließenden Dreharbeiten?
An diesem Film habe ich sehr lange gearbeitet. Schon zwei Jahre, bevor wir überhaupt gedreht haben, bin ich mit einem Blech Baklava zu deutschen Universitäten gefahren, habe Vorträge zum Thema gehalten, Menschen aus der ersten Generation kennengelernt und so Stück für Stück die Protagonist:innen für meinen Film zusammengestellt. Dabei war mir vor allem eines wichtig: Dass diese Geschichte keine ausschließlich männliche ist. Ich habe sehr viel Wert daraufgelegt, auch Gastarbeiterinnen zu finden. Eines Tages habe ich dann Osman zu so einem Vortrag an der Uni Köln mitgenommen. Der Saal war restlos voll, über 300 junge Leute saßen da – und Osman hat gar nicht mehr aufgehört mit seinen Anekdoten. Nach hunderten Anekdoten, Nachfragen und Standing Ovation – wir waren alle platt und wollten nur noch ins Bett – nimmt Osman mich zur Seite und fragt, wann wir denn endlich anfangen den Film zu drehen. Ich ziehe meinen Hut vor dieser Generation.
Welche Hürden gab es, die du zur Verwirklichung deines Projekts überwinden musstest? War es schwer, finanzielle und logistische Unterstützung für dein Projekt zu finden?
Ich muss gestehen, dass ich es als Filmemacher gewohnt bin, auch mal Absagen zu bekommen – das ist normal. Als ich aber zunehmend aus der deutschen Senderlandschaft immer und immer wieder das Feedback bekam, dass der Film und das Thema nicht relevant genug seien, wurde mir erst klar, dass das Problem viel tiefgründiger ist. Dass die Medienlandschaft einfach noch nicht so divers und vielfältig ist, wie sie gerne sein würde. Nach meiner Baklava Tour durch die Unis wusste ich ja, dass es Menschen gibt, die diesen Film sehen möchten. Dass dieses Thema sehr wohl relevant ist. Und dass für mich persönlich die Tatsache, dass diese Relevanz nicht erkannt wird, noch ein zusätzlicher Grund ist, diesen Film zu realisieren. Das habe ich dann gemacht.
In deinem Film erzählst du unter anderem die Geschichte des Ehepaars Eşref und Ayşe, die nach 49 Jahren in Deutschland zurück in die Türkei fliegen, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Sie tun das, obwohl ihre Kinder und Enkel in Deutschland leben und dennoch zieht es sie zurück in ihre Heimat. Wieso ist deiner Meinung nach für die meisten türkischen Migrant:innen der ersten Generation der Drang in die Türkei zurückzukehren stärker, als das Bedürfnis bei der Familie in Deutschland zu bleiben?
Ich glaube, Ayşe und Eşref sind da keine Einzelfälle. Schon der Begriff „Gastarbeiter:in“ impliziert ja, dass es politisch und wirtschaftlich nicht gewollt war, dass diese Menschen sich hier eine Heimat aufbauen. Im Gegenteil: Man wollte, dass Menschen wie Ayşe und Eşref hier ein bisschen arbeiten und dann schnell wieder in die Türkei zurückkehren. Ich denke, dass sowas auch nach 49 Jahren noch tief in dir steckt. Und an Ayşe und Eşref sieht man auch, wie schwer ihnen diese Entscheidung fällt. Wie gespalten diese Generation noch immer ist. Wie sehr sie im Konflikt mit sich selbst ist und wie sehr sie damit konfrontiert wird, sich ein Leben in zwei Heimaten aufzubauen. Das muss man sich erstmal vorstellen – für mich, als jemand in der dritten Generation, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, hat sich diese Frage ja nie gestellt.
Osman, ein weiterer Protagonist, der seit 1963 in Deutschland lebt, beschreibt einen Zustand, den selbst die nachfolgenden Generationen oft genauso empfinden, wenn er sagt: In der Türkei bin ich auch Ausländer (tur.: Almancı, dt.: Deutschländer) und in Deutschland kann ich zehn deutsche Ausweise haben und bin auch Ausländer. Hast du ähnliche Erfahrungen gemacht? Wo fühlst du dich fremd, wo eher zuhause?
In meiner Kindheit und Jugend war ich regelmäßig in der Türkei, um Familie und Verwandte zu besuchen. So richtig hinterfragt habe ich das aber nie. Ich habe mir nie die Frage gestellt, ob ich Deutsch bin – oder nicht. Als ich dann aber im Zuge meines Studiums und des Erasmus-Programms für ein halbes Jahr in Istanbul gelebt habe, ist mir ehrlich gesagt so richtig bewusst geworden, wie Deutsch ich dann doch bin. Ich liebe es, in der Türkei zu sein – die warmherzige Kultur, die gute Küche. Aber ganz ehrlich: So sehr ich mich manchmal über unsere deutsche Bürokratie und die Verspätung der Bahn ärgere, in Istanbul habe ich mich gefreut, wenn die Bahn überhaupt kam.
Würdest du die Migration aus der Türkei nach Deutschland nach dem Anwerbeabkommen 1961 als Erfolgsgeschichte bezeichnen? Welche Vor- bzw. Nachteile hat die Migration sowohl der türkischen, als auch der deutschen Gesellschaft gebracht?
Migration bereichert eine Gesellschaft – immer. Was Osman im Film so scherzhaft bezeichnet als „Wir haben auch unsere Kultur hergebracht, es gab ja nicht mal Auberginen oder Oliven in Deutschland“, bringt es ganz gut auf den Punkt. Ja klar, man hätte politisch ohne Frage einiges besser machen können. Aber darum geht’s mir in dem Film ja gar nicht. Mir war wichtig, einer in meinen Augen fast unsichtbaren Generation eine Stimme zu geben. Unerzählte Geschichten zu erzählen. Und das Thema in die erste Reihe der deutschen Medienlandschaft zu bringen.
Leider gibt es auch dunkle Kapitel in der Migrationsgeschichte, wie etwa die Brandanschläge von Mölln und Solingen oder zuletzt der rassistische Anschlag in Hanau. Wie empfindest du die aktuelle Situation in Deutschland?
Ich war in Hanau und habe mit Überlebenden und Angehörigen der Opfer gesprochen. Dafür gibt es keine Worte. Nichts auf dieser Welt beschreibt auch nur ansatzweise, was es heißt, Geliebte auf so eine unmenschliche Art und Weise zu verlieren. Und ja, Rechtsextremismus ist ein Problem, dem wir uns endlich annehmen müssen. Alle 23 Minuten wird in Deutschland eine rechtsextreme Straftat begangen. 22.357 rechtsextreme Straftaten in nur einem einzigen Jahr. Rassismus und rechter Terror sind viel tiefer in der Gesellschaft verankert, als wir es manchmal wahrhaben möchten. Wir müssen uns dem stellen, daran führt kein Weg vorbei.
Und je früher man den Kampf gegen Rassismus aufnimmt, umso besser. Deshalb seid ihr als Produktionsfirma auch ehrenamtlich an Schulen tätig.
Genau. Mit ASYLAND habe ich 2017 einen gemeinnützigen Verein initiiert und mitgegründet, den ich bis heute ehrenamtlich im Vorstand begleite. Mit dem Verein bringen wir gesellschaftspolitische Themen an Schulen. Mit genau dem, was wir gut können: Mit Filmen und digitalen Medien. Für uns hat sich schnell rausgestellt, dass visuelle Inhalte ein guter Türöffner für komplexe gesellschaftliche Debatten sein können und sich insbesondere Jugendliche auf diese Weise besser mit einem Thema vertraut machen können. Über 50.000 Jugendliche konnten wir deutschlandweit schon erreichen. 2019 durfte ich mir einen kleinen Traum erfüllen und zu dieser Idee und unserem Verein einen TEDx Talk halten.
In seinem Drama Siamo Italiani schrieb Max Frisch „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen". Im Film sagst du über deinen Großvater: „Er kam als Gastarbeiter, wir sind geblieben.“ Stellvertretend für die dritte Generation, als jemand, der geblieben ist, was möchtest du gerne den Menschen der ersten Generation sagen?
Ich habe mir manchmal vorgestellt, was ich wohl meinem Opa sagen würde, wenn ich ihm auch nur ein einziges Mal gegenübersitzen dürfte. Ich glaube, ich würde mich bei ihm bedanken. Für seinen Mut. Für seine Hoffnung. Und für seinen Glauben an das Gute.