Betiel Berhe ist Ökonomin und Aktivistin. In ihrem kürzlich erschienenen Buch "Nie mehr leise. Die neue migrantische Mittelschicht" zeigt sie anhand ihrer eigenen und anderer Lebensgeschichten den Zusammenhang zwischen Migration, Rassismus und Klassismus auf. Im Interview für unseren Zwischenraum für Kunst erläutert sie diese Zusammenhänge auch mit Verweis auf das deutsche Bildungssystem.
Liebe Betiel, du bist Ökonomin, Aktivistin und Mitbegründerin des Social Justice Institute in München. In deinem kürzlich erschienen Buch "Nie mehr leise. Die neue migrantische Mittelschicht" thematisierst du, basierend auf deinen persönlichen Erfahrungen, den Zusammenhang zwischen strukturellem Rassismus und Klassismus. Siehst du im Jahr 2023, also acht Jahre nach der sogenannten "Flüchtlingskrise" von 2015, anhand der aktuellen Lebensumstände geflüchteter Menschen die strukturelle Diskriminierung und Unterdrückung in Deutschland bestätigt?
Ja, absolut. Menschen, die 2015 nach Deutschland kamen, arbeiten heute mehrheitlich in Dienstleistungsbereichen, wie der Gastronomie, im Reinigungsgewerbe, bei Sicherheitsfirmen, in der Pflege oder im Transportgewerbe. Bei einem Großteil dieser Jobs handelt es sich um Tätigkeiten im Niedriglohnsektor. Dies liegt dran, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad im Dienstleistungssektor generell sehr niedrig ist. Migrantische Arbeiter*innen treffen die fehlenden gewerkschaftlichen Strukturen besonders hart. Sie haben massive Angst, ersetzt zu werden, wenn sie sich organisieren, um in den Arbeitskampf zu treten. Daher sind sie gezwungen, schlechte Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen hinzunehmen. Ein Großteil der Menschen, die 2015 kamen, stecken trotz Arbeit in der Armutsfalle – und die Wirtschaft profitiert davon.
Du bist in einer Hochhaussiedlung aufgewachsen und eure Nachbarschaft bestand aus Menschen unterschiedlichster Kulturen. Du beschreibst dein Viertel als einen "Ort der Gleichheit, der Vielfalt und der Differenz", der dir in deiner Kindheit auch ein Gefühl von Zugehörigkeit und Verbundenheit vermittelt hat. Ab welchem Zeitpunkt wurde dir bewusst, dass euer Viertel von weißen Mittelschichtsfamilien eher als sozialer Brennpunkt betrachtet wurde und wie machte sich diese strukturelle Diskriminierung im Leben außerhalb der Siedlung bemerkbar?
Als ich so etwa 14-15 Jahre alt war, machte eine Polizeiwache in unserem Wohnviertel auf. Ab diesem Zeitpunkt stiegen die Polizeipräsenz und natürlich auch die Auseinandersetzungen zwischen Bewohner*innen und Polizei. Das war in meiner Erinnerung ein Wendepunkt in Bezug auf „wie werden wir von der weißen Dominanzgesellschaft wahrgenommen“ – nicht zuletzt, weil auch in der regionalen Presse ständig über unser Viertel als Problembezirk berichtet wurde. Aber ehrlich gesagt, so richtig verstanden habe ich die Tatsache, dass ich in einem sogenannten Brennpunkt wohnte, erst, als ich auf eine Schule außerhalb meines Wohnorts wechselte. Wenn ich erzählte, wo ich wohnte, wurde mir auf der einen Seite komischerweise Bewunderung und auf der anderen Seite Mitleid entgegengebracht. Spätestens ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass mein Wohnort ein Politikum ist.
Viele der migrantischen Kids, mit denen ich aufgewachsen bin, hatten zur gleichen Zeit große Probleme eine ordentliche Ausbildungsstelle aufgrund ihrer Anschrift zu bekommen. Und wenn dann noch ein Hauptschulabschluss vorgelegt wurde, ging die Chance auf eine Ausbildungsstelle nahezu gegen Null. Das wiederum führte zu Perspektivlosigkeit im Viertel.
Du gibst Workshops und berätst zu Themen wie Migration, Rassismus, Diversity und Bildung. Wie beeinflusst deiner Meinung nach das dreigliedrige Schulsystem in Deutschland das Leben und den Werdegang von Kindern aus Arbeiter*innenklassen, insbesondere aus migrantischen Familien?
In der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft wurde lange so getan als lebten wir in einer klassenlosen Gesellschaft. Stattdessen wurde ständig der Mythos einer breiten unverrückbaren „Mitte“ verbreitet, in der jeder Mensch mit etwas Fleiß zu Wohlstand kommt. Analog dazu galt für das deutsche Schulsystem: Alle Kinder haben den gleichen Zugang zu Schulbildung. Seit ca. 20 Jahren sagen alle Vergleichsstudien das genaue Gegenteil: „In kaum einem anderen Industriestaat entscheidet die sozio-ökonomische Herkunft so sehr über den Schulerfolg und die Bildungschancen wie in Deutschland“. Das deutsche Schulsystem zementiert demnach die bestehende Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, statt sie aufzubrechen. Vor allem reproduziert das dreigliedrige Schulsystem mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium ganz offensichtlich die real existierenden Klassenverhältnisse in Deutschland.
Rassifizierte Migrant*innen der ersten Generation sind nahezu immer Arbeiter*innen. Im Gegensatz zu den weißen Ober- und Mittelschichtseltern verfügen sie daher nicht über das benötigte soziale, kulturelle und ökonomische Kapital um ihren Kindern Bildungsprivilegien zu schaffen. Im Gegenteil, migrantische Kinder werden in der Schule klassifiziert und rassifiziert. Ihre Fähigkeiten und Potenziale werden weder gesehen noch anerkannt. Ein eindrückliches Beispiel: Kolonialsprachen wie Englisch, Französisch oder Spanisch, die ehemals anderssprachigen, kolonialisierten Bevölkerungen aufgezwungen wurden, genießen im Bildungssystem immer noch einen ausgezeichneten Ruf. Wolof, Tigrinya, Twi, Türkisch, Albanisch oder Urdu hingegen werden abgewertet, als defizitär betrachtet und Kinder mit einer solchen Mehrsprachigkeit in Förderkurse gesteckt. Daran lässt sich erkennen, wie wirkmächtig die Intersektion von Rassismus und Klasse im Bildungssystem ist.
Beobachtest du in den letzten Jahren eine Zunahme von emanzipatorischen Bewegungen diskriminierter sozialer Gruppen? Wie kann die Identitätspolitik dazu beitragen, strukturelle Diskriminierung und Rassismus sichtbar zu machen?
In den letzten 10 Jahren lässt sich eine starke Politisierung der migrantischen Bevölkerung beobachten. Sowohl „der lange Sommer der Migration“ 2015 als auch die „Black Lives Matter“ Proteste 2020 haben dazu geführt, dass vor allem junge Menschen den Rassismus in dieser Gesellschaft nicht mehr einfach so hinnehmen. Aber nicht nur Rassismus, sondern auch andere menschenverachtende Formen von struktureller Diskriminierung in Bezug auf Gender, Körper, Behinderung, Alter, Religion etc. werden in den letzten Jahren, vor allem durch Social Media, offengelegt und kritisiert. Eine solidarische Identitätspolitik, die versucht, so viele unterschiedliche Lebensrealitäten wie möglich gleichwertig miteinzubeziehen, hat daher großes Veränderungspotential.
Gleichzeitig ist es mir sehr wichtig zu betonen, emanzipatorische Bewegungen nicht auf Repräsentationspolitik zu reduzieren. Liberale Kräfte versuchen dies vor allem seit den BLM-Protesten, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Aber ein paar mehr BIPoCs in Managementpositionen, in der Schule, der Politik oder gar der Polizei lösen keine strukturellen Probleme. Daher muss ein solidarischer Antirassismus immer auch die Systemfrage stellen. Um das verstehen zu können müssen wir endlich mehr über den Zusammenhang von Rassismus und Klassengesellschaft sprechen.
Wieso fällt es großen Teilen der weißen Mehrheitsgesellschaft so schwer, der Identitätspolitik marginalisierter Gruppen Positives abzugewinnen? Wodurch fühlt sich die weiße Mittelschicht bedroht?
Im Kontext von Rassismus und Klasse stellt die weiße Mittelschicht eine Art doppelte Norm dar. Ihr Weißsein bildet in Bezug auf Rassismus die Gruppe ab, die nicht benannt werden muss, im Gegensatz zu nicht-weißen Menschen, die immer als solche bezeichnet und als „anders“ konstruiert werden. Und das gleiche gilt für ihre Klassenzugehörigkeit. Zwar wird die Mittelschicht benannt, doch handelt es sich hierbei nicht um eine negative Markierung. Hinzu kommt, dass weiße Menschen der Mittel- und Oberschicht sehr früh lernen, dass nur ihre Lebenswirklichkeiten gesellschaftlich relevant sind. Weiße Privilegien entstanden, historisch betrachtet, indem nicht weiße Menschen abgewertet, enteignet und ausgebeutet wurden. Diese kolonialen Kontinuitäten prägen noch immer unsere Gegenwart und beruhen auf einer gesellschaftlichen Ordnung von Oben und Unten. Diese Ordnung wird durch emanzipatorische Bewegungen gestört und letztlich auch bekämpft. Oder anders ausgedrückt: Es geht immer auch um den Verlust von weißen Klassenprivilegien.
Wenn du dir eine gerechtere Gesellschaft erschaffen könntest, was sollte anders sein als in der aktuellen Situation?
So ziemlich alles. Unsere kapitalistische Gesellschaft basiert auf Ausbeutung und skrupellosem Konkurrenzkampf. In meiner Vorstellung einer gerechteren Welt gäbe es keine entmenschlichende Hierarchie, keine Ismen, keine Klassen und keine Identitätskategorien. Alle Menschen wären gleichwertig und wir würden uns nicht mehr mit dem Haben, sondern dem Sein beschäftigen. Fürsorgearbeit, Gemeinschaft, Solidarität ständen dann im Mittelpunkt kollektiven Handelns und Denkens.