Zwischen Heimat und Exil

Interview

Die eritreische Dichterin Yirgalem Fisseha Mebrahtu lebt seit 2018 im Exil in Deutschland, nachdem sie sechs Jahre als politische Gefangene ohne Anklage und Verfahren in Eritrea inhaftiert war. Im Zwischenraum-Interview spricht sie über den Trost, den sie im Schreiben fand, über die politische Situation in Eritrea und über ihr neues Buch „Freiheit in Briefen“ – ein persönlicher Briefwechsel mit der Schriftstellerin Tanja Kinkel. Am 16. Februar findet in der Heinrich-Böll-Stiftung eine Veranstaltung mit beiden Autorinnen statt.

Yirgalem Fisseha Mebrahtu bei der Entgegennahme des Georg-Elser-Preises der Landeshauptstadt München
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Yirgalem Fisseha Mebrahtu bei der Entgegennahme des Georg-Elser-Preises der Landeshauptstadt München

Here you can find an English version of the interview.

 

Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Yirgalem, wir gratulieren dir zum kürzlich erhaltenen Preis Georg-Elser-Preis der Stadt München. Du bezeichnest München als deine zweite Heimat. Was macht Heimat für dich aus?

Yirgalem Fisseha Mebrahtu: Ich danke euch. Sicherheit, Geborgenheit und Frieden machen für mich Heimat aus. Leider ist das nicht immer und überall der Fall. So wie mein Land es nicht geschafft hat, für seine Bürger "Heimat" zu sein.

Du bist eine eritreische Dichterin, die 2009 willkürlich verhaftet wurde und 6 Jahre ohne Anklage und Verfahren unter schlimmsten Bedingungen inhaftiert war. Im Dezember 2018 gelang dir als Stipendiatin des Writers-in-Exile-Stipendiums des PEN-Zentrum die Ausreise nach Deutschland. Wie hält man die große Sehnsucht im Exil aus und wie erträgt man die Last nicht in die Heimat zurückkehren und die Liebsten sehen zu können?

Es ist schwer zu ertragen. Selbst das Wort "hart" beschreibt es nicht genau. Während ich im Gefängnis war, haben mich die Gedanken an meine Eltern, Geschwister, Freunde und Verwandten, die wegen meiner Inhaftierung in Verzweiflung und Trauer waren, am meisten gequält. Ich glaube, sie waren alle sehr froh, als ich in Sicherheit war. Es ist eine Frage der Wahl. Die Wahl des besseren Schlechten. Ist es der Kummer, den ich im Gefängnis empfand, oder die Sehnsucht, die ich an einem sicheren Ort habe? Beides ist sehr schwierig. Aber es ist besser, sich an einem sicheren Ort zu sehnen, als im Gefängnis zu leiden. Das ist nicht etwas, was man beeinflussen kann, sondern etwas, womit man leben muss. Hinzu kommt, dass es in Eritrea kein öffentliches Internet gibt, so dass wir nicht so viel miteinander reden können, wie wir wollen, und wir können uns nicht einmal per Videoanruf sehen.

Die Gedichte deines 2023 in der deutschen Übersetzung erschienenen Bandes Ich bin am Leben hast du im Gefängnis geschrieben. Wie war es dir möglich, im Gefängnis zu schreiben und welche Bedeutung hatte das Schreiben im Gefängnis für dich?

Der Inhalt von ''Ich bin am Leben'' sind Gedichte, die zu drei unterschiedlichen Zeiten geschrieben wurden. Vor der Verhaftung, im Gefängnis und danach. Sie sind aus meinem Gedichtband mit 130 Gedichten übersetzt, der 2019 in Tigrinisch veröffentlicht wurde. Die Gedichte, die ich vor meiner Verhaftung geschrieben habe, stammen aus meiner Sammlung, die ich 2008 bei der Zensurbehörde eingereicht habe und die dort immer noch nicht veröffentlicht wurden.

Foto von Safiye Can und Yirgalem Fisseha Mebrahtu
Yirgalem Fisseha Mebrahtu und Safiye Can

Ich war an einem Ort, an dem alle Arten von Menschenrechten verletzt wurden, an dem Papier, Stifte, Bücher und Besucher nicht erlaubt waren, und es gab sogar Regeln, bei denen selbst das Gespräch mit einem Mitgefangenen zur Bestrafung führte. Also ist auch das Schreiben nicht erlaubt. Aber wir sprechen hier über Gedichte, die im Gefängnis entstanden sind. Ich möchte nur kurz erläutern, wie es dazu kam. Jeder Gefangene hat seine eigene, unbeschreibliche Technik. Im Gefängnis setzt nichts schnell ein. Die Tage sind sehr lang, bis man das Gefühl hat, dass die Tage miteinander verbunden sind. Eine Stunde allein in einer abgeschlossenen 4m2 großen Zelle fühlt sich fast wie ein ganzer Tag an. Ich glaube, dass ich wegen meiner Gedichte bessere Tage im Gefängnis haben konnte. Sie waren mein Trost, meine Hoffnung, meine Wundheilung. Sie beschäftigten mich und unterhielten mich. Es gab Zeiten, in denen meine Gedichte mir das Gefühl gaben, nicht allein in dieser winzigen Betonzelle zu sein.

Würdest du sagen, dass die Wut über die Ungerechtigkeit, die du und viele andere erlebt haben, deine Motivation zum Schreiben war?

Zufälligerweise habe ich schon als Kind mit dem Schreiben begonnen. Ich liebte es, "Gedichte" zu schreiben, wenn ich meine Gefühle in Worte fassen wollte. Ich glaube, dass die Wut über die Ungerechtigkeit, die ich erlebt und gesehen habe, die so vielen Unschuldigen angetan wurde, mich motiviert hat, ihnen eine Stimme zu geben. Wut kann schädlich für die Gesundheit sein. Aber sie ist notwendig für den Kampf gegen Ungerechtigkeit. Viele meiner Gedichte sind das Ergebnis solcher Gefühle.

Wie gespalten die eritreische Community ist, wird auch an den gewaltsamen Auseinandersetzungen deutlich, die sich oft während der Eritrea-Festivals in Stuttgart abspielen und die von regimefreundlichen Vereinen organisiert werden. Wie erklärst du dir, dass trotz der offensichtlichen Verbrechen des Diktators Afewerki viele Menschen dieses Regime unterstützen?

Tatsächlich sind diese Veranstaltungen, die als Festivals organisiert und bezeichnet werden, nicht wirklich Festivals. Diese Veranstaltungen haben der internationalen Gemeinschaft und den Medien die jahrelangen Differenzen zwischen den Eritreern aufgezeigt. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass das Regime hinter den Ereignissen und den Konflikten steckt. Aber wer sind die Unterstützer des Diktators? Ich würde eher über die Regimebefürworter sprechen als über jene, die nach Gerechtigkeit suchen. Ich glaube nicht, dass sich die Frage stellt, für die eigenen Rechte und die Rechte anderer einzutreten, und gleichzeitig ein Unterstützer eines Diktators zu sein.

Die meisten Unterstützer des Regimes leben fast so viele Jahre im Exil wie meine Lebensjahre. Ihre Kinder wurden nicht ihren Armen entrissen und zum Militär eingezogen. Sie wurden nicht gezwungen, unbefristet zu dienen oder in den Krieg zu ziehen. Sie wurden nicht unrechtmäßig verhaftet. Alle ihre Kinder sind in ihren Armen. Sie haben Häuser in Eritrea, die sie mit dem Geld gebaut haben, das sie im Exil gespart haben. Aber sie wollen dort nicht leben und haben in den letzten 30 Jahren kein einziges Jahr in Eritrea gelebt. So waren sie noch nie gezwungen, im Dunkeln zu leben, weil es keinen Strom gab. Sie haben sich keine Sorgen über Wassermangel gemacht und mussten auch kein Brot entsprechend der Anzahl ihrer Familienmitglieder kaufen. Sie haben nicht um Erlaubnis gebeten, innerhalb Eritreas von Stadt zu Stadt reisen zu dürfen. Sie sind die Einzigen, die nach Eritrea einreisen und wieder ausreisen können. Sie zahlen 2 % ihres Gehalts, organisieren hier Spenden- und Propagandaveranstaltungen als sogenannte Festivals in Solidarität mit dem Diktator. Diejenigen, die sich für Gerechtigkeit einsetzten, waren diejenigen, die all dieses Leid erfahren haben, und diejenigen, die über all das erlebte Leid wütend waren.

Kürzlich ist das Buch Freiheit in Briefen im akono Verlag erschienen, wo es um einen persönlichen Briefwechsel zwischen dir und der Autorin Tanja Kinkel über das Schreiben und alltägliche Dinge geht, aber auch um die Situation in Eritrea, den Repressionen und deinen Erlebnissen in der Gefangenschaft. Wie kam es zu diesem Projekt und was bedeutet dir der Briefwechsel mit Tanja Kinkel?

Ja, ein Buch mit drei Jahren Briefwechsel mit der Autorin Tanja Kinkel ist erschienen. Es ist ein Projekt von PEN Deutschland. Ich denke, unser Buch ist das zweite Buch in der gleichen Art und Weise. PEN Deutschland mag seine Gründe haben, Tanja und mich zusammenzubringen. Ich weiß nur, dass ich so viel Glück hatte, diese Gelegenheit zu bekommen. Da ich nicht mehr über die Hintergründe sagen kann, wie es dazu kam, möchte ich diese Frage nutzen, um der Autorin Tanja Kinkel, PEN Deutschland, dem akono Verlag, den Übersetzern Miras Walid und Kokob Semer und unserem Lektor Mekonnen Mesghena zu danken.

Buchcover "Freiheit in Briefen. Zwei Autorinnen im Dialog" von Yirgalem Fisseha Mebrahtu und Tanja Kinkel, erschienen im Akono Verlag.

Lesung & Gespräch am 16. Februar 2024 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin

Was bedeutet Freiheit in einer von Zensur geprägten Diktatur? Wie lässt sich Sprache für Unaussprechliches finden? Wo ist Heimat im Exil? In dem bewegenden Briefwechsel „Freiheit in Briefen“, der Ende 2023 im akono Verlag erschienen ist, teilen die Schriftstellerinnen Yirgalem Fisseha Mebrahtu und Tanja Kinkel ihre Erfahrungen über das Schreiben in unterschiedlichen Welten. Am 16. Februar lädt die Heinrich-Böll-Stiftung beide Autorinnen zu einer Lesung und einem Gespräch ein. Jetzt anmelden!

Noch immer sitzen viele Menschen nach ihrer willkürlichen Verhaftung in Gefängnissen oder sind verschollen. Für die Familien ist diese Ungewissheit eine tägliche Qual. Hast du nach deiner Entlassung mit Familien gesprochen, die immer noch ihre Angehörigen vermissen? Wie hat deine Familie deine Inhaftierung verarbeitet?

Eine der größten Herausforderungen, mit denen ich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis konfrontiert wurde, war die Begegnung mit den Familien der Gefangenen. Könnt ihr euch das vorstellen? Es hat mich gequält! Worüber soll man mit den Familien sprechen, wenn man ihnen nicht sagen kann, wo sich ihre Angehörigen aufhalten, die seit vielen Jahren verschwunden sind? Sie wollen zwar wissen, wie der Alltag im Gefängnis aussieht, aber ich kann ihnen nicht erzählen, was ich dort erlebt und gesehen habe. Ich weiß, dass es sie verletzen wird.

Der September ist der Monat der verschiedenen Aktivitäten zum Gedenken an die Verhaftung vieler hoher Regierungsbeamter, Journalisten und die Schließung der privaten Medien in Eritrea im Jahr 2001. Seit ich Eritrea verlassen habe, habe ich eine Vielzahl von Beiträgen zum September veröffentlicht. Im Jahr 2021 wollte ich mich an den September auf eine andere Art und Weise erinnern und beschloss, die Familien von Gefangenen zu besuchen. Die Eltern von Amanuel Asrat sind in Deutschland. Die Tochter von Dawit Habtemichael, die zwei Monate nach der Verhaftung ihres Vaters geboren wurde, ist ebenfalls in Deutschland. Ich habe sie besucht.

Bei anderen Gelegenheiten habe ich die Schwester von Seyoum Tsehaye und die Tochter von David Isaac in Schweden getroffen. Sie sind die Familien der 2001 verschwundenen Journalisten. Ich habe auch die Schwester von Frau Asther Yohannes in London getroffen. Und mit vielen anderen habe ich telefoniert. Es ist alles sehr schmerzhaft. Ich weiß nicht, was sie fühlen, wenn sie mich sehen. Fühlen sie Hoffnung oder sind sie verletzt? Ich weiß es nicht!
Meine Familie hat wegen meiner Inhaftierung sehr gelitten. Aber ich glaube, meiner Familie erging es besser als diese Familien. Zumindest wusste meine Familie, dass ich am Leben bin.

Was können deinen Leser*innen tun, um den Menschen in Eritrea zu helfen?

Ich möchte, dass sich die Leser ein genaues Bild von der Lage in Eritrea machen können. Ich glaube, dass Nicht-Eritreer aus mehr als drei Gründen nicht genug über Eritrea wissen. Unsere Schwäche, die Brutalität des Regimes bei der Schaffung eines abgesperrten Landes und die Tatsache, dass die Welt der Lage in Eritrea nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hat. Es gibt keine Regierung in Eritrea. Es gibt nur ein Regime, das das Land und sein Volk als Geiseln hält und foltert. Wenn das nicht der Wahrheit entspräche, wäre ich die Erste, die sich freuen würde. Leider ist die Realität so traurig!

Ich bitte die Leser, die Unterschiede zwischen den Eritreern nicht als Meinungsverschiedenheiten zu verstehen. Nein, das ist es nicht. Es ist kein Recht, ein mörderisches Regime zu unterstützen! Da diese Konflikte aber durch das Regime in Eritrea angeheizt werden, können Regierungen wie z.B. Deutschland sie auch beenden. Wenn die Taten des Regimes gestoppt werden, werden auch die Konflikte aufhören. Natürlich wird der Kampf gegen den Unterdrücker weitergehen, bis die Forderungen der Menschen nach Gerechtigkeit erfüllt sind. Das Regime in Eritrea nützt niemandem, nicht einmal seinen Anhängern! Es arbeitet unermüdlich daran, ein führendes Beispiel für Unverantwortlichkeit und Kriegstreiberei in der Welt zu sein. Die Menschen in Eritrea erleiden die größten Gräueltaten, die es jemals in der Geschichte gab. Ich bitte alle, ihre Stimme zu erheben, um ihre Regierung zu drängen, die Aktivitäten der Diktatoren und ihrer Unterstützer ernst zu nehmen!

Stellen wir uns einen Moment lang vor, du wärst als Jugendlicher zum Militär gezwungen worden. Jahrelang bliebst du dort. Du wurdest verhaftet, weil du nach den Wochen, in denen du deine Familie besuchen durftest, nicht zum angeordneten Termin zurückgekehrt bist. Nach Beendigung deiner Haft musstest du zurück zum Militär. Jahre vergingen, ohne dass du arbeiten und dein eigenes Leben leben durftest. Deine Geschwister wurden auch zum Militärdienst gezwungen, als sie alt genug waren. Da das Leben für dich hart ist, versuchst du, das Land zu verlassen. Aber du wirst verhaftet und für Jahre eingesperrt, weil du versucht hast, zu fliehen. Und wieder zurück zum Militär. Es gibt keine Veränderung. Du versuchst wieder und wieder zu fliehen. Eines Tages gelingt es dir. Aber dennoch musst du dich Herausforderungen stellen, bist noch lange nicht fertig. Du hast in Libyen und in der Sahara gelitten, bis du in Sicherheit warst. Mit Glück entkamst du dem Tod im Mittelmeer, gelangtest nach Italien und weiter nach Deutschland. Du hast dein Leben von Grund auf neu begonnen, und noch immer sind die Schwierigkeiten nicht gelöst. Deine Geschwister wurden in den Krieg verschleppt, und deine Familie ist in Schwierigkeiten. Du kannst nicht in dein Heimatland zurückkehren. Du kennst die Strafe, die dich für die Rückkehr in die Heimat nach einer Flucht erwartet. Verhaftung! Du weißt, dass erst das Regime in deinem Land wechseln muss, damit deine Familie wiedervereint und in Frieden leben kann.

Andere, die all diese Probleme nicht selbst oder in ihren Familien erlebt haben, stellen sich gegen sie. Damit das Regime an der Macht bleibt, spenden sie Geld von ihren Gehältern aus dem Land, in dem sie mit dir im Exil leben. Sie organisieren Benefizveranstaltungen, die sie "Festivals" nennen. Sie propagieren den Krieg, an dem deine Geschwister unter Zwang beteiligt sind, aber nicht ihre Brüder! Weil du dich gegen den Diktator und den Krieg gestellt hast, sagen sie: "Du bist keine Eritreerin. Du wurdest vom Westen bezahlt, um zu opponieren.“
Wir Eritreer, die wir einen Regimewechsel in Eritrea wollen, stehen vor solchen Problemen. Was würdest du tun, wenn du in unserer Lage wärst?

Noch einmal: Ich bitte die Leser, die Situation in Eritrea zu verstehen und ihr Herz, ihre Augen und Ohren für die Stimmen der nach Gerechtigkeit suchenden Menschen in Eritrea zu öffnen.