Die Pflicht, die Stimme zu erheben

Interview

Der Vater von Vlore Krug kam 1970 als Gastarbeiter aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland. Als 1992 bei einem rassistisch motivierten Mordanschlag sein Freund Sadri Berisha getötet wurde, war sie gerade 12 Jahre alt. Im Interview spricht sie über Erinnerung und Pluralismus, ihr Kinderbuch „Feenritter“ und über die Pflicht, die Stimme gegen Rassismus zu erheben.

Portraitfoto von Vlore Krug
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Vlore Krug ist Organisationsentwicklerin und Kinderbuchautorin.

Liebe Vlore, du hast 2022 ein Kinderbuch mit dem Titel „Feenritter“ veröffentlicht. Wann und wie kamst du auf die Idee, ein Kinderbuch zu schreiben? Wie ist es entstanden? 

Mein Sohn war gerade drei Jahre alt, und ich las ihm viele Kinderbücher vor. Mit jedem Buch wurde mir klarer, dass ich mich in diesen Geschichten nicht wiederfinde. Weder Diversität hinsichtlich sozialer Schicht noch in Bezug auf Migrationserfahrungen oder gar Krieg kamen darin vor. Die Hauptfigur meiner Geschichte, das Kind Kim, das bin ich. Ich wuchs mit einer Mutter auf, die als Reinigungskraft gearbeitet hat. Ich wünsche mir, dass meine Kinder ein positives Bild von Berufen entwickeln, die für uns alle wertvoll sind, und dass sie zugleich ihre eigenen Privilegien erkennen. Wenn etwa Kim Secondhand-Kleidung nicht als Lifestyle, sondern aus finanzieller Not trägt. Migrant*innen leben nur dann in einer Parallelgesellschaft, wenn ihr Leben in unseren Medien unsichtbar bleibt. It takes two to integration. Teilhabe und Sichtbarkeit beginnen schon im Kinderbuchregal. 

Dein Vater kam 1970 als sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland und war in den 1990er Jahren Leiter des Vereins Fazli Grejçevci – einer der größten Vereine für albanische Arbeiter*innen in Deutschland. In der Nacht auf den 8. Juli 1992 wurde bei einem rassistisch motivierten Mordanschlag in Kemnat (Baden-Württemberg) Sadri Berisha, ein aus dem Kosovo stammender Gastarbeiter ermordet und dein Vater wurde am nächsten Morgen von der Polizei auf der Baustelle abgeholt, um zu helfen. Wie geht man als Jugendliche damit um, dass plötzlich Menschen aus dem direkten Umfeld einem rassistisch motivierten Anschlag zum Opfer fallen? 

Es hat mich immer sehr verwundert, dass meine Eltern das als selbstverständlich betrachteten. Es gehörte wohl einfach zum „All-Inclusive-Paket Deutschland“ dazu. Es wurde auch nie wirklich darüber gesprochen. Damals war ich gerade zwölf Jahre alt. Das Schweigen gab uns mehr Ruhe als die Worte – Ruhe und Kraft, um uns zu integrieren.

Erst als mein Vater eine schwere Operation hatte und wir nicht wussten, ob er sie überleben würde, wagte ich 31 Jahre später die Frage: Was war damals eigentlich genau passiert, und wer war dieser Freund? Dann suchte ich seinen Namen im Internet. Ich fand einen Künstler, Klaus Illes, der nur wenige Meter vom Tatort entfernt lebte und den dieser Mordfall nie losgelassen hatte. Auf seiner Seite hatte er eine Chronologie zu dem rassistisch motivierten Mord verfasst. Klaus Illes war tief bewegt, dass ich nach all den Jahren Kontakt zu ihm aufnahm und die Familie von Sadri Berisha im Kosovo ausfindig machen konnte. Außerdem konnte ich meinen Vater als Zeitzeugen filmen und in der Ausstellung „Erste Klasse Rassismus“ im Stuttgarter Stadtpalais seine Geschichte als Installation zeigen. Ich musste den Film selbst schneiden und teilweise transkribieren. Das hat viel Kraft gekostet, weil ich den Schmerz in seinen Erinnerungen spürte – die Erschütterung, als er die Leiche vorfand.

Die Familie Berishas, besonders seine Enkelin, die ihn nie kennenlernen konnte und heute Medizin studiert, ist uns sehr dankbar für diese Erinnerungskultur. Damals bekamen die drei Kinder Berishas einfach einen Sarg mit der Leiche ihres Vaters in ihr kosovarisches Dorf geschickt. Eine Aufarbeitung gab es nicht.

War die Kontaktaufnahme zum Künstler Klaus Illes und zur Familie Sadri Berishas deine ganz persönliche Aufarbeitung des traumatischen Ereignisses?

Für mich ist es kein Trauma. Es fühlt sich vielmehr wie eine Bestimmung an, dass ich all diese Menschen zusammenbringen und diese Geschichte teilen durfte – gerade in diesen Zeiten, in denen Rassismus wieder aufkeimt. Ich fühle eine große Demut und die Pflicht, meine Stimme zu erheben, da ich weiß, dass Rassismus tötet. Die Tatwaffe war damals ein Baseballschläger. Bis heute gibt es leider kein Denkmal für den Mord an Sadri Berisha. Zumindest konnte ich einen Wikipedia-Eintrag für ihn erstellen.

Meine Eltern waren Deutschland gegenüber immer sehr dankbar für die Chancen, die ihnen als Gastarbeiter gegeben wurden. Nie kam ihnen der Gedanke, dass ihnen Unrecht widerfahren sein könnte. Aber Diskriminierung und Rassismus dürfen in einer Gesellschaft niemals als selbstverständlich hingenommen werden.

Dieser Mord war einer von vielen rechtextremen Anschlägen der 1990er Jahre und dennoch waren viele dieser sogenannten „Einzelfälle“ in der medialen Berichterstattung nicht präsent. Wie erklärst du dir das und siehst du Parallelen bzw. Unterschiede zur aktuellen Berichterstattung bezüglich der Gefahren des Rechtsextremismus? 

Was die Berichterstattung betrifft, bin ich etwas zwiegespalten. Man darf nicht unterschätzen, dass vermehrte Berichte auch zu Nachahmungstaten führen können. Verlässliche Statistiken und Meldestellen sind da hilfreicher, um Entwicklungen abzuschätzen. Ich würde mir insgesamt mehr Fakten und Transparenz wünschen. Besonders wichtig wäre, dass Straftaten von Menschen mit Migrationsgeschichte nicht instrumentalisiert werden, um Kampagnen zu schüren.

Die negative Berichterstattung über Kosovaren in den 1990er Jahren führte sogar dazu, dass Kosovaren in der Heimat auf die Diaspora-Kosovaren abschätzig blickten und ihnen das Spitzwort "Shaci" (vom deutschen „Schatzi“) gaben. Um ehrlich zu sein, war auch ich von diesem internalisierten Rassismus betroffen. Als Teenager schämte ich mich für meine Herkunft.

Was empfindest du, wenn du dir die Wahlerfolge der AfD der letzten drei Landtagswahlen vor Augen führst?

Ich empfinde eine tiefe Trauer – nicht darüber, dass die AfD gewählt wird, sondern darüber, dass keine andere Partei es schafft, eine positive Vision und echte Alternative für Deutschland zu entwickeln. Laut Hochrechnungen des DEZIM-Instituts werden im Jahr 2030 bereits 50 % der deutschen Bevölkerung einen Migrationshintergrund haben. Schon heute liegt Deutschland weltweit auf Platz zwei, was die absolute Zahl an Menschen mit Migrationsgeschichte betrifft, und auf Platz drei in relativen Zahlen. Nur Australien und Kanada stehen prozentual vor uns, wenn es um „Super-Diversität“ und Vielfalt geht.

Statt weiter zu polarisieren, sollten wir uns auf das Prinzip des Pluralismus konzentrieren, um die Herausforderungen unserer gemeinsamen Zukunft zu meistern. Lösungen in der Vergangenheit zu suchen ist so, als wollten wir heute Probleme mit gestrigen Mitteln lösen – wir brauchen eine Vision, die auf der Vielfalt unserer Gesellschaft aufbaut und den Blick nach vorne richtet.

Ein gutes Beispiel dafür ist Kanada: Dort wird Diversität als Stärke angesehen und gezielt gefördert. Staat und Gesellschaft arbeiten gemeinsam daran, eine Kultur zu schaffen, in der Vielfalt selbstverständlich ist und allen zugutekommt. Deutschland könnte von diesem Ansatz viel lernen – eine positive Vision, die unsere Unterschiede als Bereicherung ansieht, anstatt sie als Hindernis zu begreifen.

In der migrantischen Community mehren sich die Sorgen vor einer rechtspopulistischen Regierung in Deutschland. Nicht wenige Menschen spielen mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen, falls die AfD eine Regierung bildet. Hast du ähnliche Erfahrungen in deinem Umfeld gemacht?

Ich habe heute den absurden Luxus, dass ich weiße Haut habe, akzentfrei Deutsch spreche und mittlerweile einen sehr deutsch klingenden Namen trage. Meine Familie und ich erleben keinen Alltagsrassismus. Bei vielen meiner Freunde sieht das jedoch anders aus – einige haben sogar Hemmungen, am Wochenende Ausflüge ins Brandenburger Umland zu machen. Ja, es werden zunehmend Grundstücke im Ausland gekauft, Pläne geschmiedet, wann man die Immobilie in Deutschland verkauft, wichtige Dokumente in Clouds geladen. Aber wir müssen ehrlich bleiben: Das ist ein Ausweg, der nur wenigen offensteht. Dafür braucht man finanzielle Mittel und eine gewisse Flexibilität.

Für Menschen mit Behinderungen oder gesundheitlichen Einschränkungen ist das Auswandern oft kaum realistisch, da viele Länder nur eingeschränkte Unterstützung bieten. Auch für viele Menschen aus der LGTBQ+ Community ist die Auswanderung riskant oder schlichtweg unmöglich, je nach rechtlicher Lage und gesellschaftlicher Akzeptanz im Zielland. Und dann bleibt die Frage: Wohin? Weltweit beobachten wir einen Rechtsruck, und das macht die Entscheidung nicht einfacher. Bleiben und für Veränderungen kämpfen – vor allem für jene, die keine Alternative haben – das ist für mich gelebte Solidarität.

Für Friedrich Merz scheinen Kinderbuchautor*innen ein Dasein zu fristen, das man ohne Weiteres zur Diffamierung politischer Gegner*innen heranziehen kann. Ein Kommentar dazu?

Vielleicht sollte Herr Merz einen Blick in die Werke der Gebrüder Grimm werfen – die Geschichten, die unsere Kultur und deutsche Sprache maßgeblich geformt haben, enthalten klare Botschaften gegen Machtmissbrauch und für den Schutz der Schwächeren. Und Kinder sind inzwischen zu einer Minderheit ohne Schutz geworden.

Foto von Vlore Krug, die das Buch "Nie mehr leise" von Betiel Berhe in der Hand hält

Vlore Krug studierte Literaturwissenschaften in Tübingen und Boston. Ihren MBA absolvierte sie in Berlin sowie am Bodensee und debütierte 2022 mit Feenritter als Kinderbuchautorin. Vlore Krug ist eine erfahrene Change Managerin und Organisationsentwicklerin, die zahlreiche Unternehmen erfolgreich durch digitale Transformationen begleitet hat. Mit großem Engagement setzt sie sich für inklusive und gerechte Arbeitsplätze ein und nutzt ihre Plattform auf LinkedIn, um auf wichtige Themen wie strukturelle Diskriminierung aufmerksam zu machen. In ihrer Freizeit bringt sie leidenschaftlich gerne Menschen zusammen – sei es durch die Organisation des ersten Tango-Festivals in Prishtina, das Leiten von Lean In Circles in Berlin oder zivilgesellschaftliches Engagement bei Eltern gegen Rechts. Gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihren beiden Söhnen lebt sie in Berlin.