Nicht nur rechte, rassistische und antisemitische Gewalt hat eine lange Kontinuität in Deutschland, sondern auch die Selbstorganisierung von Betroffenen. Sie vernetzen sich untereinander, geben einander Halt und kämpfen gemeinsam gegen das Vergessen.

Erinnerungsarbeit ist ein mühseliger Kampf. „Warum überhaupt all diese Mühe?“ Diese Frage stellen sich die Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt immer wieder.
Manchmal zeichnen sich Erschöpfung und Resignation in den Gesichtern ab. In den Herzen kann sich die Ohnmacht schnell ausbreiten. Gerade in diesen Zeiten, in denen sich Hass und Hetze wieder wirkmächtig zeigen. Dann kommt die Frage, die jeden entmutigen kann: „Was haben wir erreicht?“ Sie suggeriert, dass die Erinnerungsarbeit vergebens sei. Stets das Gefühl im Herzen, dass die Menschen desinteressiert sind. Das Engagement ist eine endliche Ressource.
Es gibt viele Gründe, warum Menschen sich engagieren, warum sie keinen Schlussstrich ziehen können. Ein wichtiger, emotionaler Grund ist, dass sie an ihre Liebsten erinnern, die ihnen genommen wurden. Sie wollen nicht, dass sie vergessen werden – sie erinnern an sie, sagen ihre Namen, erzählen, wer sie waren, wovon sie träumten, worüber sie lachten. Überlebende fordern die Anerkennung ihres Schmerzes und Verlustes. Diese Erinnerungsarbeit ist schmerzhaft, aber unabdingbar, denn unsere Gesellschaft vergisst schnell und möchte allzu oft den Blick nur nach vorne richten.
Hanau – fünf Jahre danach
Der Anschlag von Hanau jährt sich nun zum fünften Mal. Neun Menschen wurden am 19. Februar 2020 ermordet. Diese rassistischen Morde in Hanau erschütterten viele Menschen zutiefst. Doch Hanau war kein Einzelfall! Er muss im Kontext der rassistischen und antisemitischen Kontinuität in Deutschland eingeordnet werden.
Die Überlebenden und Angehörigen der Opfer kämpfen nach wie vor für Aufklärung, Konsequenzen und Gerechtigkeit – das ist ihr politischer Kampf. Sie machten und machen immer wieder die Erfahrung, dass der Rassismus in unserer Gesellschaft verharmlost wird. Weil die Forderungen nach Konsequenzen unerhört bleiben, sind sie laut und engagiert. Nicht, weil sie es wollen, sondern weil sie es müssen. Sie engagieren und vernetzen sich. Sie sprechen auf Gedenkveranstaltungen, diskutieren auf Podien, wirken an Filmdokumentationen mit und schreiben Bücher.
Bundesweites Solidaritätsnetzwerk
Die Kämpfe haben sich in den letzten Jahren stärker vernetzt. Betroffene solidarisieren und empowern sich. Nicht nur an den Jahrestagen der rassistischen und antisemitischen Gewalttaten, sondern das ganze Jahr hindurch. Sie stärken sich gegenseitig, geben aneinander Halt. Warum? Weil Rassismus nach wie vor eine gefährliche Realität ist. Weil Betroffene nicht ernst genommen werden, Menschen weiterhin durch Rassismus sterben und rassistische Polizeigewalt ignoriert und als Fantasie von linken Aktivist*innen abgetan wird. Die Opfer-Täter-Umkehr und der institutionelle Rassismus sind schwer zu überwindende Realitäten. Die Solidarität der Betroffenen ist die Gegenbewegung.
Die Opfer-Täter-Umkehr und der institutionelle Rassismus sind schwer zu überwindende Realitäten. Die Solidarität der Betroffenen ist die Gegenbewegung.
Seit 2022 spiegelt sich diese solidarische Vernetzung im halbjährlichen bundesweiten Treffen des Solidaritätsnetzwerks wider. Das letzte Treffen fand Ende November 2024 in München statt.
Das Solidaritätsnetzwerk der Betroffenen umfasst derzeit 25 Initiativen gegen rechte, rassistische und antisemitische Gewalt. Es bringt Betroffene zusammen, vernetzt sie und stärkt ihr Engagement. Gemeinsam werden Aktionen wie Diskussionsveranstaltungen, Lesungen oder Filmabende organisiert, um Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen einzufordern.
Dieses Netzwerk, das in den letzten vier Jahren aufgebaut wurde, basiert vor allem auf ehrenamtlichem Engagement – getragen von Betroffenen rechter Gewalt und solidarischen Menschen. Es entstand aus der Ohnmacht und Wut nach Hanau sowie aus den jahrzehntelangen Erfahrungen und Kämpfen Betroffener.
Es ist ein erneuter Versuch, den Widerstand gegen Rassismus, Ungerechtigkeit und fehlende Aufklärung zu organisieren -– diesmal zivilgesellschaftlich und bundesweit. Denn es gibt eine lange Geschichte des Engagements.
Kontinuitäten migrantischer Selbstorganisierung und Widerstände
Ende der 1980er Jahre versuchte die Antifaşist Gençlik in Berlin aktiv gegen den zunehmenden Rassismus und die Gewalt von Neonazis vorzugehen. Sie bot eine Plattform für Selbstorganisation und Widerstand gegen Rassismus und faschistische Bedrohungen – ein bedeutender Schritt in jener Zeit.
Die Wanderausstellung „Migrantischer Widerstand im Hamburg der 90er“ des Soziologen und Aktivisten Gürsel Yıldırım erinnert an die selbstorganisierten Widerstände von Migrant*innen, Geflüchteten und Jugendlichen in den 1990er Jahren.
Immer wieder gab es Kundgebungen und Demonstrationen von Migrant*innen. Tausende Menschen nahmen nach dem rassistischen Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 in Hamburg an einer Demonstration teil, die von migrantischen Communities und antifaschistischen Gruppen organisiert wurde.
Auch nach den rassistischen Anschlägen im November 1992 in Mölln und im Mai 1993 in Solingen kamen viele Menschen zusammen – auch bundesweit. Diese Anschläge in Mölln und Solingen markierten Wendepunkte in der Auseinandersetzung mit rechtsextremer Gewalt in Deutschland. Sie führten zu einer breiteren Sensibilisierung für das Problem und zwangen Politik und Gesellschaft, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen. Aber führte dies zu Konsequenzen?
Nach den Morden an Mehmet Kubaşık in Dortmund und an Halit Yozgat in Kassel Anfang April 2006 organisierten die Familien der Opfer Demonstrationen. Im Mai 2006 gingen mehre Tausend Menschen in Kassel und im Juni 2006 in der Dortmunder Nordstadt auf die Straße. Ein Banner forderte sehr deutlich: „Kein 10. Opfer! Stoppt die Mörder“. Die Teilnehmenden gaben bereits fünf Jahre vor der sogenannten Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) kund, worum es sich bei den Morden handelte: um Morde an Migranten. Ein Teilnehmer der Demonstration in Dortmund sagte: „Alle Opfer sind Migranten. Da ist doch ein rechtsextremistischer Hintergrund sehr einleuchtend“ (Bunjes 2006). Aber führte dies zu Konsequenzen?
Als sich der NSU im November 2011 selbst enttarnte, war unsere Politik und unsere Gesellschaft schockiert und gewillt, der Demokratie und dem Humanismus wegen Veränderungen sowie Konsequenzen folgen zu lassen, Verantwortung zu übernehmen. Wie nach den rassistischen Ausschreitungen im August 1992 in Rostock-Lichtenhagen oder nach Solingen 1993.
Der ab 2013 beginnende NSU-Prozess in München offenbarte das Ausmaß des NSU-Komplexes. Aktivist*innen, Initiativen und Betroffene rechter Gewalt initiierten die NSU-Tribunale in Köln 2017, Mannheim 2019, Chemnitz und Zwickau 2021 und Nürnberg 2022. Das Tribunal "NSU-Komplex auflösen" schuf bedeutende Räume solidarischen Erinnerns. Auf den Tribunalen kam es zu einer bundesweiten Vernetzung und einem Austausch. Neue Ideen und Synergien in der Erinnerungs- und Betroffenenarbeit entstanden, die Erinnern und Gedenken als gemeinsame, gesellschaftliche Verantwortung für eine bessere Zukunft interpretierten.
Die Betroffenen machen weiter
In diesen Jahren des Austausches und Vernetzung bildeten sich weitere Initiativen, Betroffene empowerten sich. Der antisemitische, rassistische und misogyne Anschlag im Oktober 2019 in Halle und der rassistische Anschlag im Februar 2020 in Hanau führten unweigerlich zur weiteren Vernetzung unter den Betroffenen, weil unter anderem auf die Frage „Aber führte dies zu Konsequenzen?“ keine Antworten folgten und staatliche Behörden aus ihren Fehlern nicht lernten.
All dies kostet viel Kraft. Die Rückschläge sind beständig, die Enttäuschungen ein stetiger Begleiter der Erinnerungsarbeit. Doch die Betroffenen machen weiter, weil sie gegen das Vergessen ankämpfen. Untereinander geben sie sich Kraft, indem sie sich umarmen, aneinander zuhören und sich in Gespräche vertiefen. Diese Solidarisierung bewahrt den Rest an Vertrauen an eine bessere Gesellschaft, stärkt die Hoffnung an eine diskriminierungsfreie, schönere Gesellschaft.