Semiya Şimşek und Gamze Kubaşık verbindet eine tiefe Freundschaft und ein geteilter Schmerz. Ihre Väter wurden beide vom NSU ermordet. Der Anschlag in Hanau riss alte Wunden wieder auf – und zeigt, wie wichtig der Kampf der Angehörigen für Erinnerung und Konsequenzen ist.

Semiya Şimşek über ihren Vater Enver
Mein Vater Enver Şimşek ist am 4. Dezember 1961 in Isparta in der Türkei geboren. Mit 38 Jahren wurde er durch einen rassistischen Anschlag aus dem Leben gerissen. Er war das erste Mordopfer des NSU. Ich war damals 14 und mein Bruder 13 Jahre alt.
Mein Vater war ein liebevoller Mensch. Er war zu meiner Mutter immer respektvoll und liebevoll. Das erkenne ich auch anhand der Liebesbriefe, die sie sich aus der Ferne schrieben. Uns Kindern gegenüber war er fürsorglich. Er kämmte mir meine Haare, ohne dass es weh tat.
Er liebte es mit der Großfamilie zusammen zu sein und zu grillen. Ich habe ihn als sehr fleißigen Menschen in Erinnerung. Er arbeitete viel, schlief manchmal nur ein paar Stunden, um seine Familie gut versorgen zu können. Nicht nur die Kernfamilie, sondern auch seine Geschwister und seine Mutter, die in der Türkei lebten. Ich hatte nur 14 Jahre mit ihm, aber diese Zeit werde ich immer in meinem Herzen tragen. Ich bin stolz, seine Tochter sein zu dürfen.
Gamze Kubaşık über ihren Vater Mehmet
Mein Vater Mehmet Kubaşık wurde 1966 in Pazarcık, im Süden der Türkei, geboren. Als kurdisch-alevitische Familie beantragten 1991 Asyl in Deutschland und lebten von Anfang an in Dortmund. Am 4. April 2006 wurde mein Vater vom Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) in seinem Kiosk in der Mallinckrodtstraße ermordet. Er wurde mit 39 Jahren aus rassistischen Gründen aus unserem Leben gerissen. Er war das 8. Opfer des rechtsterroristischen NSU.
Mein Vater war jedoch viel mehr als das. Ich beschreibe ihn als den besten Menschen, den ich je kannte – einen humorvollen, herzlichen Menschen, den alle mochten.
Er war im Viertel geschätzt und beliebt. Er liebte es, mit uns Kindern Eis zu essen, zu grillen und Fußball zu spielen. Mit dem Kiosk machte mein Vater sich selbständig, wir als ganze Familie halfen mit. Meine Mutter Elif sagt bis heute, dass sie ihre Kraft nach wie vor aus der Beziehung zu Mehmet schöpft.
Wir erinnern und kämpfen gemeinsam
Wir gedenken unserer Väter. Wir lieben unsere Väter. Wenn wir an sie denken, dann erinnern wir uns stets an die schönen glücklichen Momente, an ihr Lächeln, ihre Späße und die vielen Gespräche. Umso schmerzvoller ist ihre Abwesenheit.
Wir kämpfen gemeinsam für die Aufklärung des NSU-Komplexes, für Konsequenzen in den Sicherheitsbehörden und leisten Erinnerungsarbeit. Deshalb nehmen wir gemeinsam an Veranstaltungen teil, um über unsere Erfahrungen, den NSU-Komplex und Rassismus zu diskutieren.
Unsere Freundschaft besteht schon seit vielen Jahren. Wir kennen uns seit 2006 vom Schweigemarsch in Kassel. Auch wenn wir nicht jeden Tag Kontakt haben, wissen wir immer wie es der anderen und ihrer Familie geht. Unsere Freundschaft wird sich nie auflösen, weil uns eine tiefe, vertraute Verbundenheit eint. Es ist mehr als Freundschaft – wir sind wie eine Familie. Wir teilen dasselbe Schicksal, denselben Schmerz. Wir sind gemeinsam einen langen Weg gegangen und geben uns einander viel Kraft. Gemeinsam ist es leichter, diesen beschwerlichen Weg zu gehen. Wir müssen nicht viele Worte wechseln, um zu wissen, was in der anderen vorgeht.
Wir Angehörigen und Überlebenden wurden verdächtigt und kriminalisiert. Unsere Mütter hatten von Anfang an gegenüber der Polizei den Verdacht geäußert, dass die Täter Nazis gewesen sein könnten, doch ihre Aussagen wurden nicht ernst genommen.
Bis zur sogenannten NSU-Selbstenttarnung am 4. November 2011 in Eisenach waren wir allein, wurden nicht wirklich gehört und nicht unterstützt. Wir Angehörigen und Überlebenden wurden verdächtigt und kriminalisiert. Unsere Mütter hatten von Anfang an gegenüber der Polizei den Verdacht geäußert, dass die Täter Nazis gewesen sein könnten, doch ihre Aussagen wurden nicht ernst genommen. Mehrere Jahre konnten wir nicht in Ruhe trauern. Die Solidarität war gering. Nach der NSU-Selbstenttarnung begann eine hektische Zeit. Plötzlich erfuhren wir von dem Versagen der Sicherheitsbehörden sowie von dem entwürdigenden Umgang mit den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden. Kurz zusammengefasst: der NSU-Komplex war erdrückend!
Viele Fragen bleiben unbeantwortet
Der NSU-Prozess ist beendet, Urteile wurden verkündet, aber viele Fragen bleiben unbeantwortet. Unsere Forderung – wie die der anderen Familienangehörigen – bleibt: Der NSU-Komplex muss lückenlos aufgeklärt werden. Wir möchten genau wissen, warum unsere Väter sterben mussten, nach welchen Kriterien die Opfer ausgesucht wurden. Wir möchten Gerechtigkeit.
Wir engagieren uns, weil wir immer noch offene Fragen haben, zum Beispiel: Wer waren die Helfer vor Ort? Unsere Forderungen werden nicht ernst genommen – etwa die Freigabe der NSU-Akten. Doch wir werden weiterhin dafür kämpfen, dass der NSU und seine Verbrechen vollständig aufgeklärt werden. Der Rassismus muss in unserer Gesellschaft ernst genommen werden. Wir möchten nicht, dass ein Mensch aus rassistischen oder anderen Gründen sterben muss. Unsere Väter sollen nicht vergessen werden.
Oft werden wir gefragt, woher wir die Kraft und Stärke nehmen, uns weiterhin zu engagieren. Die Antwort ist: Wir wurden in diese Rolle gedrängt, mussten – und müssen noch immer – um Aufklärung kämpfen. Unsere Mütter sind unsere Vorbilder, von ihnen haben wir die Kraft. Trotz der jahrelangen Anschuldigungen und Demütigungen bis zur sogenannten NSU-Selbstenttarnung im November 2011 gaben unsere Mütter nicht auf. Wir können nicht einfach aufhören. Andere Familien sollten nicht dieselben schrecklichen Erfahrungen machen müssen wie wir. Aber auch die engagierten, solidarischen Menschen und Initiativen sowie Bündnisse geben uns Halt und Kraft.
Der Anschlag in Hanau riss alte Wunden wieder auf
Der rassistische Anschlag in Hanau erschütterte uns und riss alte Wunden auf. Der Anschlag in Halle lag erst wenige Monate zurück. Wir waren geschockt, wütend und traurig. Wieder wurden Menschen aus dem Leben gerissen. Familien zerstört. Die Gefühle von Trauer, Enttäuschung und Wut können wir nicht in Worte fassen. Wir fragten uns immer wieder, warum die Sicherheitsbehörden nicht aus ihren Fehlern gelernt haben. Umso wichtiger war die bundesweite Solidarität im Lande. Die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden gründeten mit Unterstützung von Aktivist*innen eine Initiative und viele Menschen solidarisierten sich mit ihnen. Die Angehörigen und Überlebenden leisten seither wichtige Erinnerungsarbeit.
Uns verbindet die Wut auf die Sicherheitsbehörden, der empathielose Umgang mit den Familienangehörigen der Opfer und dass auf unsere Forderungen nicht genug eingegangen wird. Konsequenzen bleiben aus. Diese Erfahrung machen viele Betroffene rechter Gewalt. Deshalb organisieren und solidarisieren wir uns und treten auch gemeinsam auf, um den Kampf gegen Rassismus und rechte Gewalt gemeinsam weiterzuführen.