Zwischen den Baseballschlägerjahren und der aktuellen Stadtbild-Debatte liegen über 30 Jahre migrantische Kämpfe um Anerkennung, Zugehörigkeit und gegen rechte Gewalt. Hakan Akçit beschreibt, wie ermüdend diese Kämpfe und Debatten für Menschen aus der zweiten und dritten Generation sind und fragt sich, wann es Zeit ist, die Koffer zu packen.
Wir sind müde. Auf die Gefahren des Rechtsextremismus aufmerksam zu machen, kostet viel Kraft. Es ist eine Sisyphusarbeit, eine sich über Generationen migrantischen Lebens in Deutschland erstreckende vergebliche Anstrengung, die in der Politik und Gesellschaft wenig Widerhall findet. Ganz gleich, wie viele Opfer es durch den Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus gab und zukünftig auch geben wird, es bleibt ein aussichtloses Unterfangen.
Dieser Text hätte in den frühen neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts geschrieben werden können. Dass das Thema auch dreißig Jahre nach den sogenannten Baseballschlägerjahren nichts an Aktualität eingebüßt hat, ist größtenteils dem politischen Unwillen geschuldet, sich dieser Gefahr aufrichtig zu stellen und die Zivilgesellschaft ernsthaft im Kampf gegen Rechtsextremismus zu unterstützen. Das Traurige ist, dass sich mit der derzeitigen Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz auch weiterhin nichts an diesem politischen Unwillen ändern wird. Zu dieser Schlussfolgerung kommt man, wenn man allein die von der CDU/CSU gesetzten Schwerpunkte in den aktuell hitzig geführten innenpolitischen und gesellschaftlichen Debatten betrachtet: Migration und die daraus resultierenden Probleme im Stadtbild.
Diese bewusst herbeigeführte Assoziation zwischen gefährdeten deutschen Frauen und migrantischen Männern ist nicht nur rassistisch und diskriminierend [...]. Allein die Erkenntnis, dass der deutsche Bundeskanzler sich solcher Bilder und Assoziationen bedient, ist kräftezehrend und lässt uns verzweifeln.
Oder noch konkreter: die Gefahren, denen deutsche Töchter aufgrund der durch die Migration verursachten Probleme im Stadtbild ausgesetzt sind. Diese bewusst herbeigeführte Assoziation zwischen gefährdeten deutschen Frauen und migrantischen Männern ist nicht nur rassistisch und diskriminierend, sondern auch ein fester Bestandteil künstlich erzeugter Drohszenarien, die sich eigentlich in rechten Kreisen großer Beliebtheit erfreuen. Allein die Erkenntnis, dass der deutsche Bundeskanzler sich solcher Bilder und Assoziationen bedient, ist kräftezehrend und lässt uns verzweifeln. Uns, das sind alle migrantisch gelesenen Menschen, die in der zweiten oder dritten Generation in Deutschland leben. Die hier geboren wurden, größtenteils die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen und dieses Land als ihre Heimat betrachten.
Wir sind es leid
Wir sind es leid, verbrannt und erschossen zu werden. Leid, auf den Straßen gejagt, diffamiert, diskriminiert und für jede Misere in diesem Land verantwortlich gemacht zu werden. Wir sind nicht schuld an den politischen und wirtschaftlichen Krisen in diesem Land. Unsere Anwesenheit in diesem Land lässt weder die Kriminalitätsstatistik noch die Arbeitslosenquote explodieren. Wir haben den Antisemitismus weder importiert noch konzipiert, denn die Wurzeln dieses Übels sind tief in der europäischen Geschichte verankert und der Hass wurde bereits jahrhundertelang in Europa gelebt, da gab es die „Flüchtlingskrise“ und „Migrationsproblematik“ noch gar nicht.
Wir sind es leid, zum Spielball der Innenpolitik degradiert zu werden. Wir wollen nicht zum Schauplatz parteipolitischer Profilierung werden, eine Variable im Kalkül parteipolitischer Machtkämpfe. Es widerstrebt uns, dass unsere Existenz politisch und medial in Zeiten von Wahlkämpfen ausgeschlachtet wird, damit machtbesessene Politiker*innen Wahlen gewinnen. Die Rassisten und Rechtsextremisten sitzen bereits im Parlament und sind schon längst nicht mehr nur im rechten Spektrum der Gesellschaft verortet. Sie befinden sich in der Mitte der Gesellschaft, dem eigentlichen Kernland unserer Demokratie. Es ist nicht nur der komische Onkel, der einmal im Jahr mit rassistischen Sprüchen bei Familienfeiern auffällt. Es ist der Nachbar von nebenan, der Arbeitskollege, der konservative Lokalpolitiker oder der ehemalige stramme Genosse, der seine frühere linke Weltanschauung gegen rechtspopulistische Parolen ausgetauscht hat und der aktuell nichts mehr fürchtet, als die Migration und in dieser die Mutter aller Probleme sieht. Die Grenzen sind schon längst verschwommen, Rassismus wieder salonfähig und das Grölen von „Ausländer raus“ auf Partys noch nicht einmal mehr ein Kavaliersdelikt. Die Demokratie in Deutschland ist nicht mehr wehrhaft, vielleicht war sie es noch nie, nur ein Papiertiger, der sich schon immer hinter einer imaginären Brandmauer gegen Rechts versteckte.
Die Rassisten und Rechtsextremisten sitzen bereits im Parlament und sind schon längst nicht mehr nur im rechten Spektrum der Gesellschaft verortet. Sie befinden sich in der Mitte der Gesellschaft, dem eigentlichen Kernland unserer Demokratie.
Wir fürchten nicht die Remigration, auch wenn wir wissen, dass diese rassistischen Pläne schon längst keine Hirngespinste mehr sind. Es ist das Schweigen und die Passivität der sogenannten Mitte der Gesellschaft, die uns Sorgen bereiten. Und obwohl wir aktuell, quasi live im Fernsehen aus unseren Wohnzimmern, mitverfolgen können, wie schnell sich eine noch so gestandene Demokratie in Übersee geradezu in Lichtgeschwindigkeit selbst zersetzt, ziehen wir keine Schlüsse für die Zukunft unserer Gesellschaft. Wir sind beratungsresistent, wenn es darum geht, zu verstehen, dass es unmöglich und fatal ist, intolerante Rechtsextremisten mit Toleranz zu begegnen und in einem intellektuellen Diskurs zu stellen. Wir haben die Propagandaschlacht in den sozialen Medien schon längst verloren und wir brauchen nicht die eigene Landesgeschichte zu bemühen, um zu erkennen, wie fatal es ist und welch Höllenpforte sich öffnet, wenn wir weiterhin in Lethargie erstarren.
Verlorenes Vertrauen
Wir sind entmutigt von den vielen Einzelfällen bei den Sicherheitsbehörden, die ihrer rassistischen und menschenverachtenden Ansichten in Chat-Gruppen freien Lauf lassen und nur in den seltensten Fällen zur Rechenschaft gezogen werden. Wir verstehen nicht, wie es immer wieder zu Ermittlungspannen bei rechtsextremistischen Straftaten kommt und prinzipiell immer nur in migrantischen Milieus oder im direkten familiären Umfeld der Opfer ermittelt wird. Wir haben das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden verloren und sind der vielen Talkshows in den öffentlich-rechtlichen Medien überdrüssig, die allzu oft die wachsende Gefahr durch den Rechtsextremismus per redaktionellem Beschluss ausblenden und für Einschaltquoten oder Likes bewusst oder unbewusst als Steigbügelhalter für blau-braune Propaganda dienen, indem sie über Migrant*innen und Probleme reden, anstatt mit ihnen über ihre Leistungen und Erfolge in Deutschland zu sprechen.
Wir fragen uns, wie es sein kann, dass schwerreiche Unternehmer unverhohlen die Nähe zu einer rechtsextremistischen Partei suchen können, ohne dass ein Aufschrei durch die Gesellschaft geht, denn ein Konglomerat aus Rechtsextremisten und Unternehmern verhieß schon in der Vergangenheit nichts Gutes. Überhaupt wundern wir uns, wie weit die Geschichtsvergessenheit bzw. -ausblendung in unserem Land verbreitet sind und wie die Aufforderung „Wehret den Anfängen“ zu einer leeren, bedeutungslosen Phrase verkommen ist. Es erschüttert uns, dass Künstler*innen, Autor*innen und Intellektuelle von Veranstaltungen ausgeladen werden, weil sich Veranstalter dem Hass und den Hetzkampagnen eines rechten Mobs beugen, Lokalpolitiker*innen sich aus der Kommunalpolitik zurückziehen, weil sie täglich Gewalt, Anschlägen und Morddrohungen ausgesetzt sind und der Staat allem Anschein nach nicht in der Lage ist, diesen engagierten Bürger*innen Schutz zu gewähren. Kaum jemand stolpert mehr über die Stolpersteine auf deutschen Straßen. Die Mahnmale von einst dienen nur noch einem dekorativen Zweck und lediglich zur Reinwaschung vergangener Schuld. Dabei bemerken die meisten nicht einmal, dass sie ganz beiläufig auf dem besten Weg sind, ihre zukünftigen Gewissen mit gegenwärtiger Schuld zu beladen.
Doch wohin?
Wir fühlen uns von der Gesellschaft im Stich gelassen, unsere Seelen haben durch den jahrzehntelangen Kampf tiefe Wunden erlitten und wir können nicht nachvollziehen, warum die Politik das Thema AfD-Verbot nicht einmal mit der Kneifzange anfassen will. Wir sind fest davon überzeugt, dass eine gesichert rechtsextremistische Partei eigentlich gar nichts in der politischen Landschaft unserer Gesellschaft zu suchen hat und sich eine wehrhafte Demokratie eigentlich gegen Verfassungsfeinde wehren sollte. Daher ist es für uns auch unverständlich, warum ein Parteiverbot nach Art. 21 Abs. 2 GG nicht einmal in Erwägung gezogen wird, obwohl die AfD die freiheitlich-demokratische Grundordnung beeinträchtigen oder am liebsten ganz abschaffen will.
All das macht uns müde. Vielleicht ist es am besten, sich wie Dunja Hayali aus dem öffentlichen Diskurs zurückzuziehen. Oder sich einzugestehen, dass die Heimatfrage in Deutschland toxischer Natur ist. Vielleicht ist es daher an der Zeit, die Koffer zu packen und auszuwandern, ohne mit der Wimper zu zucken, und somit einer Remigration zuvorzukommen. Dem Land, in dem wir geboren wurden, den Rücken zu kehren und weit weg von der einstigen Heimat den verlorenen Seelenfrieden wiederzuerlangen. Doch wohin eigentlich auswandern? Das ist die nächste ermüdende Frage, die sich uns dann stellt.