Der 9. Oktober – wie sprechen danach?

Essay

Heute jährt sich der Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle auf die Synagogenbesucher*innen, den Kiez-Döner und weitere Menschen zum fünften Mal. Zu diesem Anlass blickt Esther Dischereit auf den Tag und den Prozess zurück.

Bei einer Kundgebung zum Gedenken an den Anschlag in Halle ist ein großes Transparent zu sehen, auf dem "erinnern, kämpfen, verändern. selbstbestimmt und solidarisch" steht
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Gedenken an den Anschlag in Halle 2019, aufgenommen im Oktober 2023

2019. 9. Oktober, der Tag des Anschlags auf die Synagogenbesucher*innen in Halle, auf die Kund*innen und Geschäftsleute, die den Kiez-Döner führten, auf die Polizist*innen, auf Passant*innen, die helfen wollten, auf einen, der ausstieg aus der Straßenbahn und wegen seiner Hautfarbe erst recht ein Ziel abgab, auf die Unschuldigen in Wiedersdorf, auf deren Auto es der Täter zur Flucht abgesehen hatte und sie schwer verletzte.

Der Anschlag des rechtsextremistischen Täters kostete Jana L., eine Frau, die an der Synagoge vorbeikam und Kevin S., der im Kiez-Döner gerade bestellen wollte, das Leben. Eigentlich weiß ich es nicht, ob er schon bestellt hatte.

Es erscheint nebensächlich angesichts dessen, dass er kurz darauf ermordet wurde. Aber es ist doch möglicherweise das letzte Genaue darüber, wie wir ihn uns vergegenwärtigen können: wie er an eine Theke getreten wäre, bestellt und das Geld hinübergereicht hätte. Für seinen Kollegen hat er mitbezahlen wollen, weil der sein Portemonnaie auf der Arbeit vergessen hatte.

Die anderen aus dem Kiez-Döner und 52 Menschen aus der Synagoge waren davongekommen. Noch jemand war davongekommen, eine Frau, die erwogen hatte entweder nach Halle zu kommen, um Yom Kippur dort zu begehen, oder sich für die Feier einer anderen Gemeinde zu entscheiden. Die Entscheidung war ihr schwergefallen, weil sie an einem Gottesdienst in der Synagoge von Halle teilzunehmen auch als eine sehr gute Idee ansah.

Sie entschied sich für die Liberalen, war also nicht hingefahren.

Erst während des Prozesses, der im Jahr 2020 in Magdeburg vor dem Oberlandesgericht Naumburg gegen den Attentäter geführt wurde, wurde ihr bewusst, dass ihre Urgroßeltern in Halle gelebt hatten und dort begraben waren. Der Attentäter hatte auf den neben der Synagoge gelegenen Friedhof Brandsätze geworfen. Der versuchte Massenmord, getragen vom Kodex antisemitischer, islamfeindlicher, rassistischer und frauenfeindlicher Werte, hatte den jüdischen Menschen den Tod bringen sollen. 

Eine der Überlebenden sagte später, der Tod von Jana L. und Kevin S. träfe sie so, als hätte es sie an ihrer Statt getroffen. Neben Trauer und Bestürzung mischten sich bei den Betroffenen bald auch Wut und Empörung über das Versagen der Polizei und auch wegen der Rohheit und Respektlosigkeit, die die Davongekommenen aus der Synagoge noch danach durch sie erlitten. 

Vor Gericht hatten die Betroffenen als Nebenkläger*innen 2020 an einem Strafprozess teilgenommen und ihn auch in gewissem Umfang selbst geführt; ein Prozess, von dem der Nebenklagevertreter Onur Özata im abschließenden Plädoyer gesagt hatte: 

„Die Überlebenden haben vor einem Gericht Zeugnis abgelegt, welches sich schützend vor sie gestellt hat. Es hat Hass und Häme des Angeklagten nicht geduldet. Hierbei hat es in beispielloser Weise den Opfern den Raum und würdigen Rahmen gegeben, das Erlebte und ihren Schmerz mit der Welt zu teilen. Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer klagte mit Blick auf den Frankfurter Auschwitz-Prozess: ‘Deutschland würde aufatmen, und die gesamte Welt und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind, und die Luft würde gereinigt, wenn endlich einmal ein menschliches Wort fiele.‘ Fritz Bauer wäre zufrieden gewesen mit diesem Verfahren, denn dieses war ein menschliches.“

Der Gerichtssaal war ein Forum geworden, in dem die, die ein Recht hatten zu klagen und anzuklagen, nicht daran gehindert wurden, das zu tun. Der Nebenkläger Ezra Waxman befragte den Täter selbst vor Gericht. Die Nebenkläger*innen sprachen darüber, was ihnen geschah, welche Gedanken und Gefühle sie bewegten. Man könnte meinen, das müsse sich von selbst verstehen und es sei das Mindeste, was man für die Opfer tun könne. Das ist nach der überwiegend praktizierten Form des Strafprozesses in Deutschland nicht so.

Der Antisemitismus und Rassismus des Täters hatte sich nicht nur gegen seine Opfer persönlich gerichtet, sondern sollte sie als Zugehörige zu einem Kollektiv, zu einer Community, treffen und sie hatten sich das Recht genommen, auch als solche zu sprechen: sichtbar als Jüd*innen und Türk*innen, Schwarze Menschen, Geflüchtete Menschen, als LGBTQI+ Menschen – als viele.

Der Täter verstand sich als rechtsextremer Aktivist einer Darknet Community. Sie feiert die Verbrechen von Utøya – 77 Menschen wurden getötet – bis Christchurch, eine Tat, bei der 51 Menschen getötet wurden, die in Moscheen zum Gebet zusammengekommen waren. Und weitere Verbrechen. 

Es besteht in Deutschland eine strukturelle Neigung, diese Bedrohung der Menschen durch extremistische Täter*innen den gesellschaftlich „Anderen“ zuzuschreiben, so als könne man prinzipiell von einer islamisch geprägten oder Migrationsdisposition zur Gewalt ausgehen. Ein trügerisches Feindbild, hinter dem die Wirklichkeit der rechtsextremen Täter*innen und ihres Umfelds verblasst und verharmlost wird.

Der Täter von Halle wurde zu einer lebenslänglichen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, 2024 wurde er erneut verurteilt wegen Geiselnahme bei einem Ausbruchsversuch aus der Justizvollzugsanstalt Burg.

Die Erinnerungen derer, die am 9. Oktober 2019 in Halle sterben sollten und der Schmerz der Familienangehörigen der Getöteten, lassen sich mit dem Gerichtsurteil nicht abschließen, vielleicht wird die Erinnerung blasser, manchmal nicht. Die Betroffenen haben miteinander eine Form gefunden, in der sie mit der Tat und ihren Folgen im öffentlichen Raum und auch in nichtöffentlichen geschützten Räumen miteinander sein können, wenn sie das wollen. Sie kommen zusammen und sind eine zivilgesellschaftliche Kraft geworden, sie schufen einen Raum des Sprechens für sich und andere Betroffene und für diejenigen, die sie unterstützen. 

Zwar gelang es nicht den Kiez-Imbiss – er war das zweite Anschlagsziel – zu erhalten, auch die Wiedereröffnung als Café gelang trotz großem zivilgesellschaftlichem Engagement nicht, aber es ist ein Ort der Zivilgesellschaft geworden: TeKIEZ Friedenskreis Halle e.V.

Das Festival of Resilience wurde eine wichtige Form des öffentlichen Sprechens, der Selbstermächtigung und Unterstützung. 2024 nimmt das Programm im Besonderen Bezug darauf, dass die Gottesdienstbesucher*innen zu Yom Kippur zusammengekommen waren, dem höchsten jüdischen Feiertag, einem Tag, der mit dem Blasen des Schofar zuende geht.

An jenem 9. Oktober waren die Teilnehmer*innen in ein Krankenhaus gebracht worden und führten hier die Gebete weiter, bis Valentin Velvel Lutset mit dem Schofarblasen die Zeremonie schloss. Er bläst jetzt – fünf Jahre danach – erneut den Schofar. (Komponist: Camilo Bornstein, UA).

Das Festival of Resilience  wurde von jüdischen Überlebenden des Anschlags in Halle ins Leben gerufen. Veranstaltungsorte sind: Halle und Berlin unter dem Titel NachHall(e) 13.10.2024 bis 27.10.2024. Halle: Freylinghausen-Saal, Frankesche Stiftungen, Haus 1, Frankeplatz 1, 06110 Halle (Saale) 13.10. Gespräch ab 16:15, Konzert ab 18:45; Konzertprogramm: Camilo Bornstein Resilience / Helical Changes, 2024, Ursula Mamlock, Rückblick, 2002, Farzia Fallah Spaces of Deep Silence, 2021; Berlin: 14.10. Festsaal Kreuzberg ab 18 Uhr * Bitte anmelden