In dem zweisprachigen Gedichtband "Ich habe den Zorn des Windes gesehen" schreibt die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Mariam Meetra über den Verlust von Heimat und die Widerstandskraft afghanischer Frauen. Warum sie ihnen jede Zeile widmet, die sie schreibt, erzählt sie im Interview für unseren Zwischenraum für Kunst.

Liebe Mariam, du bist Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. 2023 erschien dein zweisprachiger Gedichtband Ich habe den Zorn des Windes gesehen beim Wallstein Verlag in Deutschland. Was war die Motivation zu diesem Buch und wieviel Herzblut steckt in diesem Band?
Mariam Meetra: „Ich habe den Zorn des Windes gesehen“ ist mehr als nur ein Buch – es ist mein innerer Dialog mit dem, was ich verloren habe, und zugleich eine literarische Chronik einer Generation von Frauen, deren Leben von politischer Gewalt und persönlicher Widerstandskraft geprägt ist. Die Motivation, diesen Band zu schreiben, kam aus einem tiefen Bedürfnis heraus: nicht zu schweigen. Als die Taliban 2021 wieder die Kontrolle über Afghanistan übernahmen, bedeutete das für mich nicht nur den Verlust eines Landes, sondern auch den Verlust eines Raums für Sprache, Öffentlichkeit und künstlerischen Ausdruck. Viele von uns wurden aus unserem Leben gerissen, aus unserer Sprache verdrängt und aus unserem kulturellen Gedächtnis gelöscht.
Der „Zorn des Windes“ im Titel ist ein poetisches Bild für das Unsichtbare, das alles verändert – Gewalt, Angst, Trauma, aber auch Erinnerung, Bewegung und Hoffnung. Der Wind ist Träger und Zeuge zugleich. Er nimmt mit, was wir nicht halten konnten, aber er bringt auch zurück, was wir nicht vergessen dürfen. Dieses Buch entstand in einem Zustand emotionaler Widersprüchlichkeit – zwischen Heimat und Exil, Sprachverlust und poetischer Wiederaneignung, Ohnmacht und künstlerischer Selbstermächtigung. Jeder Vers, jedes Gedicht ist durchzogen von Herzblut, aber auch von Verantwortung. Für mich, für andere Frauen, für die, die keine Stimme mehr haben.
In deinem zweisprachigen Gedichtband treffen deine Gedichte erstmalig auf ein deutsches Publikum. Welche positiven Effekte bringt die Übersetzung deiner Gedichte aus dem Persischen ins Deutsche hinsichtlich des Dialogs mit deinen Leser*innen?
Als Dichterin durfte ich erleben, wie einige meiner Gedichte und Texte durch die literarische Plattform Weiter Schreiben den Weg in die deutsche Sprache fanden – wie sie sich verwandelten, einen neuen Klang annahmen und ein neues Publikum erreichten. In der Übersetzung geschieht mehr als nur ein sprachlicher Transfer: Es ist ein Akt der Verbindung. Ein Gedicht, das in einer anderen Sprache zu atmen beginnt, bringt nicht nur meine Stimme in eine neue Welt, sondern lässt auch etwas Gemeinsames entstehen – zwischen mir und den Lesenden, zwischen Herkunft und Ankunft, zwischen Erinnerung und Gegenwart.
Sprache ist mein Ort der Begegnung. Seit ich in Deutschland bin, ist das Schreiben mein intensivster Weg gewesen, mit der Welt um mich in Beziehung zu treten.
Um als Schreibende weiter atmen zu können, brauche ich den Dialog mit der Gesellschaft, in der ich heute lebe. Ich muss gehört werden – und ebenso muss ich hören können. Sprache ist mein Ort der Begegnung. Seit ich in Deutschland bin, ist das Schreiben mein intensivster Weg gewesen, mit der Welt um mich in Beziehung zu treten. In der Übersetzung, im Vorlesen, im gemeinsamen Sprechen über Gedichte entsteht ein Raum der gegenseitigen Annäherung. Ein Raum, in dem ich mich selbst und mein Gegenüber neu erfahre. So wächst Stück für Stück ein doppeltes Gefühl von Zugehörigkeit – auf meiner Seite, und auf Seiten derer, die meine Texte lesen, hören, mit mir sprechen. In diesem Austausch entsteht etwas Seltenes: ein unmittelbares, menschliches Verstehen, das über Sprache, Herkunft und Alltag hinausreicht.
Deine Gedichte handeln einerseits von der Befreiung aus der strengen Reglementierung und Einflussnahme der afghanischen Gesellschaft. Andererseits thematisierst du auch das Gefühl der Entwurzelung im Exil und die Sehnsucht nach deiner früheren Heimat. Was vermisst du hier aus Afghanistan und was wünschst du dir für die Zukunft für deine Heimat?
Ein Teil meiner Erinnerungen an Afghanistan ist mir kostbar und ich bewahre sie in Ehren. Ich kann manche Dinge nicht vergessen. Aber ich habe akzeptiert, dass ich jetzt an einem anderen Ort auf der Welt lebe – und ich bin gezwungen, ein neues Zugehörigkeitsgefühl zu entwickeln, um meine Seele und mein Inneres vor dem Zusammenbruch zu bewahren, der oft nach der Migration eintritt.
Ich vermisse die kollektive Hoffnung, die wir trotz allem hegten. Auch wenn wir unterdrückt wurden, existierte eine Art ungeschriebener Solidarität unter Frauen – in Gesten, Blicken, in dem Mut, jeden Tag aufs Neue das Haus zu verlassen.
Aber ich vermisse auch meine Sprache im öffentlichen Raum. Im Exil lebe ich in einer Zwischenwelt. Ich schreibe auf Persisch, übersetze ins Deutsche, spreche Englisch – aber meine Gedanken gehören einer Sprache an, die in meinem Heimatland zum Schweigen gezwungen wurde. Das Exil ist nicht nur geografisch, sondern auch sprachlich eine Entwurzelung.
Das Leben in Afghanistan und das Leben in Deutschland sind für mich – wie für viele andere – zwei völlig unterschiedliche Erfahrungen. Dennoch habe ich versucht, meine gelebten Erfahrungen in beiden geografischen Räumen miteinander zu verbinden und eine sinnvolle Beziehung zwischen ihnen herzustellen. Ich habe das, was ich in Afghanistan gelernt und erfahren habe, hier nicht ignoriert. Ich habe versucht, das, was ich mitgebracht habe, auch hier anerkennen zu lassen und die weitverbreitete Haltung herauszufordern, die besagt, man müsse „bei null anfangen“ – was letztlich bedeutet, alles neu zu lernen.
Für Afghanistan wünsche ich mir eine Zukunft, in der Mädchen ihre Träume nicht als Gefahr begreifen müssen. In der Literatur, Bildung, Meinungsfreiheit nicht als Privileg, sondern als Selbstverständlichkeit gelten. Ich wünsche mir ein Land, das nicht von der Angst seiner Frauen lebt, sondern von ihrer Freiheit. Und ich wünsche mir, dass die Erinnerung an das, was wir durchlebt haben, nicht verloren geht – sondern als Widerstandsgeschichte weitererzählt wird.
Wie gefährlich ist es für afghanische Autor*innen, sich zur politischen Situation in Afghanistan zu äußern?
Die Gefährdungslage für afghanische Autorinnen, insbesondere für Frauen, ist außerordentlich hoch. Die politische Realität in Afghanistan ist geprägt von systematischer Repression und der gezielten Unterdrückung kritischer Stimmen. Schriftsteller*innen, Journalist*innen und Intellektuelle leben unter ständiger Bedrohung – viele mussten ihre Arbeit einstellen oder das Land verlassen.
Bereits eine einzelne Formulierung – sei es ein Satz in einem Essay, ein metaphorisches Bild in einem Gedicht oder ein Posting in den sozialen Medien – kann als „politische Provokation“ oder „Blasphemie“ ausgelegt und mit schweren Konsequenzen belegt werden. In Afghanistan existiert de facto keine Meinungsfreiheit mehr – weder im öffentlichen Raum noch im digitalen.
Die Angst ist real, die Verantwortung schwer. Und dennoch erheben viele Autor*innen weiterhin ihre Stimme – aus Gewissen, aus Widerstand, aus Hoffnung.
Auch für Autor*innen im Exil bleibt das Sprechen über politische Themen mit Risiken verbunden. Viele von ihnen haben Familienangehörige oder enge Kontakte, die weiterhin in Afghanistan leben. Jede öffentliche Stellungnahme kann potenzielle Auswirkungen auf diese Menschen haben. Diese Sorge wirkt tief nach – selbst in der relativen Sicherheit des Exils.
Die Angst ist real, die Verantwortung schwer. Und dennoch erheben viele Autor*innen weiterhin ihre Stimme – aus Gewissen, aus Widerstand, aus Hoffnung.
Wie beurteilst du die immer wiederkehrenden Debatten in der deutschen Politik und Gesellschaft über geflüchtete Menschen insbesondere aus Afghanistan und Syrien im Zusammenhang mit reißerischen Schlagwörtern wie sichere Herkunftsländer, Abschiebung und Kriminalität?
Die Diskussionen rund um Flucht und Asyl verlaufen in Deutschland oft sehr kontrovers – und das ist verständlich, denn es handelt sich um ein sensibles und politisch aufgeladenes Thema. Gleichzeitig beobachte ich mit Sorge, dass in öffentlichen Debatten häufig stark vereinfachende Begriffe verwendet werden, die den komplexen und sehr persönlichen Fluchtgründen vieler Menschen nicht gerecht werden. Begriffe wie „sicheres Herkunftsland“ etwa können – wenn sie unreflektiert gebraucht werden – den Blick auf die tatsächliche Lage vor Ort verzerren.
Für mich als afghanische Frau ist es schwer nachvollziehbar, wie man ein Land wie Afghanistan als „sicher“ einstufen kann, während Frauen dort faktisch vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, der Zugang zu Bildung untersagt und kritische Stimmen unterdrückt werden. Eine solche Realität kann nicht als sicher gelten – insbesondere nicht für Frauen und Minderheiten.
Ich wünsche mir, dass wir in politischen wie gesellschaftlichen Debatten stärker auf die individuellen Schicksale, Stimmen und Potenziale geflüchteter Menschen eingehen. Migration ist eine Realität unserer Zeit – und sie bringt nicht nur Herausforderungen mit sich, sondern auch Chancen. Wenn wir Vielfalt als Teil unserer gemeinsamen Zukunft verstehen, können wir Ängste abbauen und Brücken bauen – auf Grundlage von Menschlichkeit und differenzierter Information, statt von Schlagwörtern und Pauschalisierungen.
Du hast 2023 das renommierte Chamisso-Publikationsstipendium erhalten. Wenn du diesen Preis jemandem widmen könntest, wem oder was würdest du ihn widmen?
Ich würde diesen Preis all jenen afghanischen Frauen widmen, die inmitten von Angst und Unterdrückung den Mut gefunden haben, ihre Stimme zu erheben. Jenen, die – trotz Verboten, Drohungen und Gewalt – auf die Straße gegangen sind: mit einem Plakat in der Hand, einem Gedicht im Herzen und einem Schrei auf den Lippen.
Viele von ihnen wurden verhaftet, gefoltert, zum Schweigen gebracht. Manche kennt die Welt, viele bleiben namenlos. Ihr Mut, ihr Widerstand, ihr unbeugsamer Wille, gesehen und gehört zu werden, ist für mich eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration.
Sie kämpfen für das Recht zu existieren, zu lernen, zu sprechen, zu träumen – für Dinge, die anderswo selbstverständlich scheinen. In einer Welt, die oft wegsieht, erinnern sie uns daran, was es heißt, für Freiheit einzustehen.
Sie kämpfen für das Recht zu existieren, zu lernen, zu sprechen, zu träumen – für Dinge, die anderswo selbstverständlich scheinen. In einer Welt, die oft wegsieht, erinnern sie uns daran, was es heißt, für Freiheit einzustehen.
Ihnen gehört jede Zeile, die ich schreibe. Und ihnen gehört dieser Preis. Nicht als Trophäe, sondern als stilles Zeichen der Anerkennung – für ihren Mut, ihre Würde und ihre ungeschriebene Literatur des Widerstands.
Woran arbeitest du gerade – steht eine neue Publikation in Aussicht?
Derzeit bin ich intensiv in mein Forschungsprojekt eingebunden. Parallel dazu arbeite ich an einem neuen Gedichtband, der sich mit dem Widerstand afghanischer Frauen auseinandersetzt – mit ihren Stimmen, ihrer Unsichtbarkeit und ihrer inneren Stärke. Die Gedichte sollen dokumentieren, erinnern und verbinden.