Parteien müssen ihre Rekrutierungsstrategien hinterfragen

Interview

Aferdita Suka engagiert sich seit 2011 als Bezirksverordnete in Tempelhof-Schöneberg, für die Wahlen des Berliner Abgeordnetenhauses im Herbst 2021 tritt sie als Direktkandidatin an. Im Interview mit Vjollca Hajdari bespricht sie, warum es Frauen ebenso wie Menschen mit Migrationsgeschichte nach wie vor schwer in der Politik haben – und wie sich das ändern ließe.

Portrait von Aferdita Suka

Aferdita Suka flüchtete mit 12 Jahren aus Kosovo zusammen mit einem Teil ihrer Familie nach Deutschland. Seit 1992 lebt die heute 40-Jährige in Berlin. Nach dem Abitur studierte sie Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin und arbeitete unter anderem als Referentin in der Berliner Senatsverwaltung. Aktuell ist sie als Freiberuflerin und Gerichtsdolmetscherin tätig.

Seit 2011 engagiert sich die Mutter einer Tochter ehrenamtlich als Bezirksverordnete in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Tempelhof-Schöneberg. Für ihr sozialpolitisches und zivilgesellschaftliches Engagement wurde sie 2015 mit dem bundesweiten Helene-Weber-Hauptpreis gewürdigt. Aferdita Suka ist sozial- und gesundheitspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen und Vorsitzende des Gesundheitsausschusses der BVV Tempelhof-Schöneberg. Für die Abgeordnetenhauswahlen im Herbst 2021 tritt sie als Direktkandidatin im Wahlkreis Tempelhof an. Letztes Wochenende wurde sie auf Platz 25 der Landesliste gewählt.

Vjollca Hajdari: Was reizt dich an der politischen Arbeit auf Bezirksebene?

Aferdita Suka: Als Bezirksverordnete ist man sehr nah mit den Bedürfnissen und Problemen der Menschen vor Ort konfrontiert, denn ich bin Teil des Bezirks. Der unmittelbare direkte Kontakt zu den Menschen macht die politische Arbeit im Bezirk so besonders. Der Kontakt und Austausch zu Verwaltung oder sozialen Trägern ist auch direkter, intensiver und sehr bereichernd. Ich lebe mit meiner kleinen Familie in Tempelhof. Meine Tochter wächst hier auf. Freunde wohnen nur ein paar Straßen weiter, und man trifft auf liebe Nachbar:innen. So bekomme ich auch durch mein soziales Umfeld mit, wo und an welchen Stellen im Kiez der Schuh drückt. Und dann heißt es, die Dinge nicht laufen lassen, sondern nach Bedarf verbessern und neugestalten.

Was sind deine Schwerpunktthemen?  

Eines meiner Herzensthemen ist es, dass Menschen in ihrem Kiez möglichst lange gesund und selbstbestimmt leben können. Dazu braucht es nicht nur deutlich mehr bezahlbare und alter(n)sgerechte Wohnungen, sondern auch ein entsprechendes barrierearmes Wohnumfeld und eine wohnortnahe Versorgung. Als Gesundheitspolitikerin ist es mein Ziel und Anspruch zugleich, dass jeder Mensch in einer gesunden, geschützten Umwelt aufwachsen, leben und altern kann. Dazu gehört eine nachhaltige Stadtentwicklung, genauso wie eine gesunde, klimafreundliche Verkehrspolitik. Wie gesund ein Kind aufwächst, kann Politik auch stark durch einen besseren Zugang zu Vorsorge und Prävention beeinflussen. Deshalb setze ich mich zum Beispiel für die Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes ein, der wesentlich die Gesundheit der Bevölkerung stärken soll.

Als Bezirksverordnete von Tempelhof-Schöneberg beschäftigt mich beispielsweise derzeit intensiv die Zukunft des Standorts Wenckebach-Klinikum, das verlagert werden soll. Eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Lebensqualität und Daseinsvorsorge. Daher ist mir die Sicherung dieses Standortes als bedarfsgerechte, wohnortnahe Versorgung ein zentrales Anliegen.

Im Wahlkreis Tempelhof bist du die einzige Frau unter den aussichtsreichen Direktkandidat:innen. Ist das Zufall oder braucht es in der Politik mehr Frauen, die sich für Ämter bewerben?

Ganz klar: Die Politik und unsere Demokratie brauchen mehr Frauen. Auch nach einem Jahrhundert Frauenwahlrecht sind Frauen in der Politik unterrepräsentiert: im Bund wie in den Ländern, aber auch auf Bezirksebene in der BVV. Vor allem in politischen Führungspositionen mit viel Entscheidungskompetenzen sind Frauen stark unterrepräsentiert. Ich bin erst mit 30 Jahren in eine politische Partei - bei Bündnis 90/Die Grünen - eingetreten. Neben der Umwelt- und Migrationspolitik waren damals für mich Grüne Frauen Vorbilder und die Frauenpolitik der Grünen entscheidende Faktoren, warum ich 2010 in dieser Partei aktiv geworden bin.

Warum haben es Frauen nach wie vor schwerer in der Politik?  

Damit wir viele Frauen für die Politik gewinnen, braucht es meiner Meinung nach viel mehr erreichbare Vorbilder. Frauen müssen das Gefühl bekommen, das kann ich auch schaffen. Gerade für Frauen, die nicht zufällig politiknah aufgewachsen sind, ist das politische Geschäft abschreckend. Sie fragen sich, wie soll ich das alles nur unter einen Hut bringen - als Mutter, Berufstätige und eben auch junge Frau, mit dem Wunsch nach Freizeit und Freundeskreis.

Was müsste sich dann ändern?

Das politische Ehrenamt könnte an dieser Stelle vielen Frauen, einen leichteren Einstieg bereitstellen. An dem nötigen Engagement und Ehrgeiz mangelt es ihnen nicht! Aber es sind die Strukturen, die nach wie vor Menschen mit Kindern und/oder pflegende Angehörige abschrecken. Es ist genau diese schlechte Vereinbarkeit von Politik und Familie, die ich als praktische Hürde in der Bezirkspolitik erlebe. Sitzungen beginnen oft nachmittags oder auch erst abends um 19 Uhr. Das kollidiert dann mit dem Familienalltag: das gemeinsame Abendessen und Zubettbringen der Kinder stehen an. Und diese Sorgearbeit übernehmen immer noch größtenteils die Frauen, auch wenn zunehmend Männer ebenfalls in Elternzeit gehen. Es ist somit auch kein Zufall, dass wir in der BVV kaum junge Eltern im Alter zwischen 30 und 40 Jahren haben, die also bereits doppelbelastet mit Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit sind. Politik im Ehrenamt läuft da nicht so einfach nebenbei.

Du bist ebenso eine Politikerin mit Migrationshintergrund. Wo siehst du die Besonderheit darin?

Als Besonderheit würde ich tatsächlich die Tatsache sehen, dass ich mit höchstens einer Handvoll anderer Menschen mit Migrationshintergrund in der BVV sitze. Dieser gehören insgesamt 55 Bezirksverordnete an. Das ist schon beachtlich und da stellt sich natürlich die Frage, inwiefern sich dann Menschen mit Migrationshintergrund von der Bezirkspolitik vertreten fühlen beziehungsweise sich mit ihrer Politik identifizieren können. Daher ist diese „Besonderheit“ demokratietheoretisch ein großes Problem für eine repräsentative Demokratie und muss dringend von allen Parteien angegangen werden.

Wir Grüne haben aktuell ein Vielfaltsstatut eingeführt, um unsere Partei diverser zu machen. Oft gelingt Zugang zu Politik - ähnlich wie zum Öffentlichen Dienst - schneller über Netzwerke und über direkte Ansprache. Ich persönlich nehme daher auch an vielen Aktionen und Veranstaltungen teil, die das Ziel haben, Menschen mit Migrationshintergrund für die Politik zu gewinnen. Dabei versuche ich direkt als Ansprechperson zu fungieren, Mut zu machen, und als jemand, die bereits Zugang in die Politik gefunden hat, auch anderen sozusagen die „Türen“ zu öffnen.

Wenn wir von „Türen öffnen“ sprechen: Wie kann die Politik mehr Menschen mit Migrationshintergrund gewinnen?

Was für Frauen gilt, gilt für Menschen mit Migrationshintergrund noch mehr: Wir brauchen erreichbare Vorbilder, sonst bemühen sich Menschen erst gar nicht, sie sehen ja den Sinn darin nicht. Aus Diskussionen mit Menschen mit Migrationhintergrund, insbesondere, wenn sie auch aus bildungsfernen Familien kommen, weiß ich, dass ihnen Politik als viel zu weit weg erscheint. Ähnliches gilt übrigens auch für die Öffentliche Verwaltung. Mein Vater sagte zu mir, als ich mich nach meinem Studium für die Stelle in der Senatsverwaltung beworben hatte, das sei nichts für uns, das sei was für Deutsche. Aber das ist sicherlich nicht die ganze Erklärung, warum Menschen mit Migrationshintegrund so wenig in der Politik repräsentiert sind. Denn mittlerweile haben wir auch so viele gut ausgebildete und sehr selbstbewusste Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland.

Daher müssen Parteien ihre Rekrutierungsstrategien hinterfragen, Menschen mit Migrationshintergrund gezielt ansprechen, ihnen praktische Unterstützung und Begleitung anbieten, zum Beispiel über längere Mentoringprogramme. Es geht darum, die fehlenden politiknahen Netzwerke und sozialen Beziehungen, über die nun mal auch Rekrutierung stattfindet, „künstlich“ aufzubauen und für Menschen mit Migrationshinterund zugänglicher zu machen.  

Drei Menschen sitzen auf einer Bank vor einer großen Foto-Wand mit vielen unterschiedlichen Gesichtern.

Portraitreihe: Repräsentation, Teilhabe, Empowerment

Die plurale Migrationsgesellschaft wird in deutschen Parlamenten weiterhin kaum oder viel zu wenig abgebildet. Das ist ein Problem für die repräsentative Demokratie und für gerechte politische Teilhabe und Partizipation. Mit der Portraitreihe junger Politiker*innen of Color, die sich erstmals auf ein politisches Amt auf Landes- oder Bundesebene bewerben, möchten wir Stimmen und Perspektiven stärken, die im politischen Betrieb immer noch zu wenig repräsentiert und sichtbar sind. Hier geht es zu allen Interviews der Portraitreihe.

Inwiefern hat dich deine eigene Fluchterfahrung und Migrationsbiografie geprägt, dich politisch zu engagieren?

Meine Migrationsbiographie hat sicherlich bei mir dazu geführt, dass ich einen besonderen Blick auf integrationspolitische Effekte von politischen Maßnahmen habe. Ich hinterfrage immer, ob beispielsweise Unterstützungsangebote auch Menschen mit Migrationshintergrund gut erreichen. Mit über 20 Jahren nebenberuflicher Erfahrung in der Sozialen Arbeit, im Gesundheitswesen als Sprach- und Kulturmittlerin, weiß ich nur zu gut, dass leider nicht zuerst diejenigen Hilfe und Unterstützung bekommen, die es am dringendsten bräuchten.

Eine Mitschülerin sagte mir mal, dass ich wie eine Nachrichtensprecherin reden würde. Damit hatte sie wahrscheinlich auch nicht Unrecht. Während des Kosovo-Kriegs hörte ich permanent Nachrichten und las viel Zeitung, um die Situation in der Heimat zu verfolgen. Während ich Klausuren für mein Abitur in Deutschland schrieb, kämpften meine ehemaligen Mitschüler:innen im Kosovo wortwörtlich ums Überleben. Dort fanden sogenannte ethnische Säuberungen statt.

Diese Erfahrungen haben mich geprägt und früh das Interesse für Politik und für gesellschaftspolitische Entwicklungen geweckt. Ich trage in meiner Biographie definitiv auch die schreckliche Erfahrung, wozu soziale Ungleichheit, Diskriminierung aufgrund ethnischer oder sonstiger Gruppenzugehörigkeit in seiner extremsten Form führen kann. Es führt zu Hass, Krieg und Verlust. Das hat sicherlich auch mein Engagement geprägt, mich für Demokratie, Zusammenhalt und Soziale Gerechtigkeit einzusetzen.

Dein Motto in der Politik?

Die Dinge nicht einfach laufen lassen, sondern proaktiv nach Bedarf verbessern und neugestalten. Wer mich kennt, weiß: Ich bin hartnäckig in der Sache und gehe mutig und positiv voran. Nach jahrelanger Erfahrung in der Politik kann ich noch hinzufügen: Je früher du handelst, je breiter du Menschen einbindest, desto leichter, wirksamer und nachhaltiger ist dein Handeln.