Wir müssen die Narrative ändern

Die Art und Weise, wie wir in Deutschland über Israel und Palästina sprechen, ist geprägt vom Narrativ der „Zwei Seiten“. Dadurch entsteht ein Lagerdenken, bei dem Menschenleben gegeneinander ausgespielt werden. Joana Osman plädiert dafür, dieses Narrativ zu durchbrechen.

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Joana Osman ist Schriftstellerin und war 2012 Mitbegründerin der Friedensbewegung "The Peace Factory"

Zwei verstörende Meldungen sollten uns dringend dazu bewegen, unseren gegenwärtigen sozialen Diskurs zu überdenken: Texas: Eine Frau versuchte, zwei Kinder, sechs und drei Jahre alt, zu ertränken – weil sie Palästinenser sind. Frankreich: Drei Jugendliche vergewaltigen ein zwölfjähriges Mädchen – weil sie Jüdin ist. 

Gewaltverbrechen gegen Jüdinnen und Juden sowie gegen Palästinenserinnen und Palästinenser haben seit dem 7. Oktober auf dramatische Weise zugenommen und dies ist das direkte Resultat von menschenverachtenden Narrativen. Indem ihre Leben zu einem Nullsummenspiel erklärt werden, werden Menschen jüdischer und palästinensischer Herkunft systematisch entmenschlicht.

Der Begriff Nullsummenspiel stammt aus der Spieltheorie und bezeichnet eine Situation, in der der Gewinn der einen Seite mit dem totalen Verlust der anderen Seite gleichgesetzt wird. Oder, anders ausgedrückt: Es wird um Sieg gespielt, und Sieg bedeutet die komplette Vernichtung des Gegners. 

Auf die politische Situation zwischen Israel und den Palästinensern übertragen, bedeutet dies: Wenn wir – und damit meine ich uns alle – zwei Völker so systematisch gegeneinander ausspielen, dass sie gezwungen sind, in der Weltöffentlichkeit um Empathie und Unterstützung zu wetteifern, dann schaffen wir einen kaum zu lösenden Konflikt, in dem das Überleben der einen Seite untrennbar mit der totalen Vernichtung der anderen Seite einhergeht. Dadurch werden ganze Gesellschaften auf eine Weise radikalisiert, die beispiellos ist.

Ein solches Nullsummenspiel wird kreiert, indem die Leben der Geiseln und die Leben der palästinensischen Zivilistinnen und Zivilisten gegeneinander ausgespielt werden, oder indem das Existenzrecht Israels und das Recht des palästinensischen Volkes auf einen eigenen Staat gegeneinander ausgespielt werden, oder auch, indem die Zahlen der in diesem Krieg getöteten Zivilistinnen und Zivilisten beider Seiten miteinander verglichen werden, als ob es sich hierbei nicht um reale Menschen, sondern um Spielfiguren auf einem Schachbrett handle. 

Nie dürfen Menschen auf solch eine Weise einander gegenübergestellt werden und gegeneinander in unmenschlichen Vergleichen wetteifern müssen. Eine Politik, die eine solche Dynamik hervorbringt, tut dies, weil sie ihre Ziele bewusst so gewählt hat, dass diese nur durch die vollständige Vernichtung der Gegenseite zu erreichen sind. Es ist eine Alles-oder-Nichts-Strategie, die die Machthaber beider Seiten derzeit verfolgen. Es ist die Strategie aller Extremisten, Fundamentalisten, Ultra-Nationalisten und Faschisten weltweit.

Kollektives ethisches Versagen westlicher Gesellschaften

Als wäre dies für die Zivilist*innen vor Ort nicht schon tragisch genug, entspinnt sich in unseren vermeintlich so aufgeklärten Demokratien eine zusätzliche Konfliktebene, nämlich dann, wenn unsere Gesellschaften, die sich gerne als »progressiv« bezeichnen, kollektiv ethisch versagen, indem sie dieses perfide Spiel mitspielen. Es ist ein menschlicher Offenbarungseid, den unsere westliche Gesellschaft hier beschämenderweise leistet.

Die Art und Weise, wie wir hierzulande über Israel und Palästina sprechen, basiert sehr häufig auf demagogischen Narrativen. Viel wurde bereits über die oft destruktiven Diskursdynamiken geschrieben, über das fast schon zwanghafte Bedürfnis nach Eindeutigkeiten, das zu einer Simplifizierung der Zusammenhänge führt, zu einer Reduktion der komplexen Wirklichkeit auf ein simples Täter-Opfer-Narrativ beispielsweise. Oder über den sozialen Druck, sich mit der einen oder anderen Seite solidarisch zu zeigen, während man zugleich das Leid der anderen Seite systematisch ausblendet. Ausgeblendet wird dabei auch die heterogene Wirklichkeit der israelischen und palästinensischen Gesellschaften, denn mit wem möchte man sich da eigentlich solidarisieren, wenn Flaggen gehisst und Parolen wie „Stand with Israel“ oder „Stand with Palestine“ gerufen werden? Mit den jeweiligen Regierungen? Der Opposition? Den Zivilgesellschaften, die so divers und heterogen sind, wie alle anderen Gesellschaften auf dieser Welt? 

Man möchte diesen Protestierenden gerne zurufen, sie mögen ihre Parolen und Slogans doch einmal konkretisieren. Doch dazu würde es gar nicht kommen, denn es ist ja gerade das Unkonkrete, das Plakative, das Polemische, das Inhaltsleere, das diese Rufe so erfolgreich und so ansteckend macht. Dieser ungesunden Dynamik zugrunde liegen bestimmte Narrative, die immer wieder reproduziert werden.

Diese Narrative sind so gefährlich wie einfältig, denn sie basieren im Wesentlichen auf zwei Prinzipien: Dehumanisierung und Viktimisierung, das klassische Schwarz-Weiß-Denken also, bei dem die eigene Seite als moralisch überlegen und gleichzeitig als Opfer wahrgenommen wird, während die andere Seite konsequent dämonisiert wird, indem Pauschalisierungen und Gleichsetzungen vorgenommen werden, die fast immer einer rassistischen beziehungsweise antisemitischen Agenda folgen.

Auf Grundlage dieser Narrative wird eine Gesellschaft also regelrecht dazu ermutigt, diejenigen zu bekämpfen, die man als zur anderen Seite gehörig betrachtet. Es entsteht ein gefährliches Lagerdenken, das nicht nur der israelischen beziehungsweise der palästinensischen Gesellschaft immanent ist, sondern das gerade auch hierzulande um sich greift, ironischerweise ausgerechnet bei Menschen, die weder biografische, noch kulturelle Bezüge zum Nahen Osten aufweisen und das eine oder das andere Lager nur deswegen so unreflektiert wie bedingungslos unterstützen, um auf der vermeintlich moralisch richtigen Seite zu stehen – um eben „bei den Guten“ zu sein. Die Ironie dabei ist, dass gerade diejenigen, die sich so vehement auf die eine oder die andere „Seite“ schlagen, die Gewalt und damit den Konflikt immer mehr befeuern, nur um sich damit auf Kosten der Leidtragenden aller Seiten zu profilieren. 

Warum simplifizierte Narrative verfangen

Der Mensch ist ein narratives Wesen, ein „Storytelling Animal“ 1, wie der Kommunikationsforscher Jonathan Gotschall schreibt und unser Gehirn ist evolutionär darauf programmiert, Geschichten zu suchen, zu finden, zu verarbeiten, zu rezipieren, zu deuten – und zu erfinden. Kulturen, Religionen und Nationen – sie alle basieren auf den Geschichten, die wir uns über uns selbst und über andere erzählen. Wir können also gar nicht anders, als permanent in Narrativen – also im Storytelling-Modus – zu leben.

Narrationen sind also das zentrale Element jeglicher Kommunikation und sie sind machtvoll. Erzählungen sind immer überzeugender als Argumente. Als Menschen tendieren wir stark dazu, unsere Leben, die Leben der Anderen und sogar das Weltgeschehen als Episoden zu betrachten, in denen alle Akteurinnen und Akteure gewisse, von uns festgelegte Rollen einnehmen: Held und Bösewicht, Täter und Opfer.  

Dieses “Narrative Paradigma“2 bietet uns eine höchst attraktive Orientierung in einer komplexen Welt an, führt jedoch zuweilen auch dazu, dass wir als Individuen und als Gesellschaften irrational und festgefahren agieren, denn die einmal von uns entwickelte Erzählung ist so überzeugend, dass wir sie nicht einfach abschütteln können. Auch das sogenannte „eskalierende Commitment“ fällt in den Bereich der narrativen Muster: Haben wir uns erst einmal für eine Seite, für ein Narrativ entschieden, so können wir nicht einfach lockerlassen und uns umentscheiden – und so reproduzieren wir dieselben alten Muster oft immer und immer wieder. Von einigen politischen Akteur:innen wird diese allzu menschliche Eigenschaft gerne benutzt, man könnte auch sagen missbraucht, um politische Ziele zu erreichen – Manipulation und Desinformation sind gerade in unserem Zeitalter die Schattenseite des narrativen Paradigmas: Populisten und Demagogen weltweit nutzen Storytelling geschickt als Instrument zur Desinformation und Manipulation und dazu, sich und ihresgleichen als Retter, Helden und/oder Opfer zu stilisieren. Und so verwundert es nicht, dass sowohl in Israel, als auch in den palästinensischen Gebieten die jeweiligen Feindbilder so systematisch und gezielt medial konstruiert werden, dass es an Gehirnwäsche grenzt. 

Die Narrative ändern

Auf den Nahostkonflikt bezogen erklärt dies, warum wir uns in einer derart destruktiven Spirale befinden: Weil wir dieselben alten Gut-und-Böse-Narrative beständig wiederholen, erleben wir dieselben Rache-und-Vergeltungs-Exzesse immer und immer wieder – und immer intensiver. Oder, anders ausgedrückt: Wir können ein Problem nicht mit derselben Denkart lösen, in der es entstanden ist. Wir müssen also die Narrative ändern.

Wie gelingt uns das? Durch mehr narratives Denken! Denn zu jeder Erzählung gibt es eine Gegenerzählung. Narrative gibt es in unzähligen Variationen, sodass es, selbst wenn wir uns in einer Narration scheinbar unlösbar verstrickt finden, unzählige Auswege gibt. Narrationen mögen die Wurzel des Problems sein, aber sie sind auch das Mittel, es zu lösen.

Ein Ansatz wäre es, das Narrativ der „Zwei Seiten“ zu durchbrechen und die damit einhergehenden Verallgemeinerungen und Kollektivierungen zu beenden. Laut offizieller Lesart stehen in diesem Konflikt zwei verfeindete Völker einander gegenüber. In Wirklichkeit jedoch werden hier unschuldige und grundsätzlich friedliebende Zivilistinnen und Zivilisten von Extremisten und extremistisch agierenden Mächten bekämpft – auf beiden Seiten und von beiden Seiten. Sowohl auf der israelischen, als auch auf der palästinensischen Seite gibt es sowohl Opfer, als auch Täter. Menschen, die Frieden möchten und Menschen, die auf Sieg aus sind und für die der Konflikt ein Nullsummenspiel ist. Ironischerweise richtet sich die Gewalt der Extremisten nicht nur gegen die Menschen der jeweils anderen Seite, sondern auch gegen unschuldige und nach Frieden strebenden Menschen im eigenen Lager.

Hier zu differenzieren und damit ein realistischeres Narrativ zu erzeugen, ist schon alleine deswegen geboten, weil es uns helfen würde, nicht in verallgemeinernden und damit potenziell antisemitischen und rassistischen Kategorien zu denken. Darüber hinaus erlaubt uns diese differenziertere Denkart aus dem toxischen Bekenntniszwang des „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ auszubrechen. Tun wir dies, so erkennen wir, dass es durchaus möglich ist, die unvorstellbar grausamen terroristischen Angriffe der Hamas in aller Schärfe zu verurteilen und zugleich darauf zu beharren, dass Israel mit der gebotenen Verhältnismäßigkeit und Rücksicht auf die palästinensische Zivilbevölkerung auf diese Attacken reagiert. Ebenso ist es möglich, angesichts des unermesslichen Leids in Gaza einen sofortigen Waffenstillstand und humanitäre Hilfe zu fordern und gleichzeitig die Freilassung der Geiseln. Beides ist selbstverständlich und kein Widerspruch. 

Ein weiterer Ansatz bestünde darin, gerade die friedliebenden Menschen beider Seiten zu unterstützen, ihnen beizustehen im Kampf gegen Extremismus und Hass, sich also an die Seite derjenigen zu stellen, die bestrebt sind, Sicherheit, Freiheit und Gerechtigkeit für beide, ja für alle Völker zu erwirken und ihnen Sichtbarkeit zu geben und Gehör zu verschaffen. 

Niemand von uns kann diesen Krieg beenden, aber wir können unseren Umgang damit verändern. Wir stehen vor der Wahl, ob wir Teil der Lösung, oder Teil des Problems sein wollen, ja wer wir in Bezug zu diesem und anderen Konflikten in der Welt sein wollen. Ein Krieg dieses Ausmaßes, der das Zeug hat, sich zu einem globalen Konflikt zu entwickeln, erfordert Menschlichkeit unter allen Umständen. Radikaler Perspektivenwechsel und universalistische Menschlichkeit. Von jedem Einzelnen.

Footnotes
  • 1

    Vgl. Gotschall, Jonathan: The Storytelling Animal. How Stories make us human. Marnier, New York: 2012.

  • 2

    Fisher, Walter R. (March 1984). "Narration as a human communication paradigm: The case of public moral argument". Communication Monographs.