Alle unter einem Dach? Muslimische Vielfalt in Deutschland: Möglichkeiten und Grenzen der Kooperation

Muslimische Dachverbände gelten als Ansprechpartner und Brückenbauer bei der Integration des Islams in Deutschland
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Muslimische Dachverbände gelten als Ansprechpartner und Brückenbauer bei der Integration des Islams in Deutschland

 

von Kerstin Rosenow und Matthias Kortmann

Die Debatte um muslimische Einwandernde in Deutschland, die in jüngster Zeit neuen Auftrieb erhalten hat (1), offenbart immer wieder simplifizierende Sichtweisen vom Islam als einer homogenen Religion. Dabei beweist bereits ein Blick auf die vielfältige muslimische Organisationslandschaft in Deutschland: Es gibt nicht den Islam, sondern stattdessen eine Vielzahl unterschiedlicher islamischer Strömungen, welche mitunter in Konkurrenz zu einander stehen und sich mal mehr, mal weniger deutlich voneinander abgrenzen. Diese Vielfalt der MuslimInnen in Deutschland sowie ihr eher geringer Organisationsgrad erschwert die Bildung eines zentralen islamischen Ansprechpartners, der für sich in Anspruch nehmen könnte, für die Mehrheit der MuslimInnen in Deutschland zu sprechen.

In diesem Beitrag sollen die Ursprünge der derzeitigen Mannigfaltigkeit muslimischer Organisationen dargelegt und unter Rückgriff auf organisationssoziologische Erkenntnisse Möglichkeiten und Grenzen der Bildung einer gemeinsamen Interessenvertretung diskutiert werden. In einem kurzen Fazit soll schließlich die gesellschaftliche Rolle islamischer Verbände in Deutschland bewertet werden.

Geschichte der islamischen Dachverbandsbildung in Deutschland

Auch wenn die ersten islamischen Vereine in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert ins Leben gerufen wurden, nahm eine intensivere islamische Organisationsbildung erst im Zuge der Gastarbeiterzuwanderung insbesondere aus der Türkei (ab 1961), aber auch Marokko (ab 1963) und Tunesien (ab 1965) ihren Lauf. Um ihre Religion auch in der nichtmuslimischen Umgebung ausüben zu können und um „Gefühle von Haltlosigkeit, Selbstverlust und Sinnlosigkeit zu bewältigen“ (Schiffauer 2004: 68), gründeten viele ArbeitsmigrantInnen bald nach ihrer Ankunft in Deutschland örtliche Moscheegemeinden als Stätten der Begegnung sowie des gemeinsamen Gebets. Dabei übertrugen die Gründer dieser Moscheen ihre aus dem Herkunftsland mitgebrachten religiösen Prägungen auf die neu gebildeten Gemeinden in Deutschland, so dass sich die unterschiedlichen islamischen Strömungen bald auch in der religiösen Vereinslandschaft im Aufnahmekontext wiederfanden.

Verstärkt wurde diese Orientierung am religiösen Spektrum des Herkunftslandes durch einen starken Bezug vor allem auf die türkische Heimat, in die man schließlich nach Beendigung der Tätigkeit in Deutschland zurückzukehren beabsichtigte (Schiffauer 2004: 70). Zusammen mit den unterschiedlichen religiösen Strömungen wurden auch deren Konfliktlinien nach Deutschland übertragen, welche sich in einer Konkurrenz um Moscheemitglieder ausdrückten.

Eine zentrale Konfliktlinie bildete von Beginn an der Gegensatz zwischen denjenigen Moscheen, welche von der türkischen Religionsbehörde Diyanet Isleri Baskanligi (im Folgenden: Diyanet) unterstützt wurden sowie den in Opposition zum türkischen Laizismus stehenden Organisationen. Da sich letztere in Deutschland freier entfalten konnten, gründete die Diyanet im Jahr 1984 in Deutschland die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religionen (DITIB), welche gewährleisten sollte, dass das offizielle türkisch-sunnitische Islamverständnis auch im Einwanderungskontext praktiziert wurde (vgl. Amelina/Faist 2008; Riexinger 2005; Rosenow 2010). Die DITIB, die heute nach eigenen Angaben über 896 Ortsgemeinden verfügt und damit die größte islamische Organisation in Deutschland darstellt, bietet sowohl soziale und kulturelle als auch religiöse Dienste an, wobei die Imame ihrer Moscheen von der türkischen Religionsbehörde in Ankara entsandt werden, welche auch deren Bezahlung und Beaufsichtigung übernimmt (Halm/Sauer 2005).

Die wichtigste oppositionelle türkisch-sunnitische Strömung repräsentiert die Milli Görüş-Bewegung. In Deutschland gründete sie 1976 einen Dachverband, dem heute 323 deutsche Moscheegemeinden angeschlossen sind sowie 191 Gemeinden aus 10 weiteren EU Ländern. Heute residiert die Organisation als (europäischer) Dachverband unter dem Namen Islamische Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) in Kerpen (Schiffauer 2007, 2010; ZfT 2005). Der Verband, der aufgrund des Vorwurfs verfassungsfeindlicher, zuletzt als „integrationsfeindlich“ (Bundesministerium des Innern 2007) betitelter Bestrebungen seit Jahren vom Verfassungsschutz beobachtet wird, bietet ebenfalls ein breites Spektrum an Angeboten im religiösen, sozialen und kulturellen Bereich an (vgl. Atilgan 2002: 225-230).

Ebenfalls in Opposition zum Laizismus türkischer Prägung steht die sunnitische Strömung der Süleymancilar. Die vor allem als mystisch beschriebene „sunnitisch-hanefitische Erneuerungsbewegung“, die in den 1920er Jahren in der Türkei entstand und auf den islamischen Rechtsgelehrten Süleyman Hilmi Tunahan (1888-1959) zurückgeht, organisierte sich in Deutschland bereits 1973 als Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Sie bildet mit über 300 Gemeinden in Deutschland heute die drittgrößte türkisch-islamische Strömung in Deutschland und betreibt neben Moscheen auch zahlreiche Schülerwohnheime (vgl. Jonker 2002a;).

Die heimatlandbezogenen Gegensätze zwischen der DITIB auf der einen Seite und der IGMG und dem VIKZ auf der anderen Seite standen der Bildung einer einheitlichen muslimischen Repräsentanz unter Beteiligung der drei größten islamischen Organisationen in Deutschland lange Zeit entgegen. Aufgrund ihrer „Rückbindung an den türkischen Staat“ (Lemmen 2000) stellte und stellt sich die Idee eines formalen Beitritts zu einer muslimischen Spitzenorganisation für die DITIB problematisch dar. Die anderen beiden Verbände beteiligten sich jedoch – getrennt von einander – seit den 1980er Jahren durchaus an islamischen Spitzenverbandsgründungen.

So war der VIKZ 1986 zunächst ein Gründungsmitglied des Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland (IRD), um diesem bereits zwei Jahre später den Rücken zuzukehren und sich dem Islamischen Arbeitskreis (IAK) anzuschließen, aus dem 1994 der Zentralrat der Muslime (ZMD) als zweiter Spitzenverband hervorging. dem der VIKZ bis zum Jahr 2000 angehörte. Bis zu seiner strukturellen Verfestigung zu einem eingetragenen Verein und zur Umbenennung in den ZMD wirkte auch die DITIB aktiv im IAK mit, lehnte es jedoch schließlich ab, formelles Mitglied des ZMD zu werden (vgl. Lemmen 2006: 163). Die IGMG wiederum trat 1993 aus dem ZMD aus und ist heute der größte Dachverband des IRD. Heute sind dem IRD 37 Verbände angeschlossen, während der ZMD 18 Mitgliedsorganisationen vereinigt, die sowohl türkischer, arabischer, albanischer, multiethnischer, aber auch deutscher Herkunft sind. 

Beide Spitzenverbände, aber auch die unabhängigen Dachverbände DITIB und VIKZ beabsichtigten, mit ihrer Organisationsform dem Staat einen zentralen muslimischen Ansprechpartner anzubieten und somit die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Religionsgemeinschaft und langfristig als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erfüllen. Eine Anerkennung als Körperschaft können nach Art 137 Abs. 5 WRV (2)  solche religiösen Organisationen erreichen, die „durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten“. Nach bisheriger Verleihungspraxis wird u.a. dann von einer Dauerhaftigkeit ausgegangen, wenn die betreffende religiöse Organisation seit mindestens 30 Jahren besteht.

Von größerer Relevanz ist für die muslimischen Organisationen jedoch die Anerkennung als Religionsgemeinschaft nach Art. 7. Abs. 3 des Grundgesetzes, welche sie berechtigen würde, islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anzubieten. Die größte Hürde stellt dabei vor allem der Nachweis einer ausreichenden Mitgliederzahl dar. Da sich der Islam – anders als die christlichen Kirchen – grundsätzlich nicht mitgliedschaftsrechtlich organisiert, fällt es den Verbänden schwer, eine hinreichende Repräsentativität unter den in Deutschland lebenden MuslimInnen nachzuweisen (vgl. Campenhausen 1996: 91). (3)

Mit der Gründung der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. (AABF), der deutschen Vertretung der AlevitInnen, etablierte sich Anfang der 1990er Jahre eine weitere Konfliktlinie innerhalb der muslimischen Verbändelandschaft. Der Ursprung des Alevitentums geht auf das 13. Jahrhundert und verschiedene heterodoxe Strömungen zurück (Sökefeld 2005: 49 f.). Die Rückbesinnung der AlevitInnen auf ihre alevitische Identität, die seit Ende der 1980er Jahre zu Vereinsbildungen geführt hatte, war nicht zuletzt durch Konflikte zwischen der alevitischen Minderheit im türkischen Herkunftsland und den dortigen sunnitischen MehrheitsmuslimInnen forciert worden. Seit Gründung der AABF versuchen die AlevitInnen, die in der Türkei über Jahrhunderte mit Diskriminierungen zu kämpfen hatten, sich verstärkt als liberale Variante des Islam in Opposition zu den sunnitischen und schiitischen MuslimInnen zu profilieren.

Betrachtet man die aufgezeigten Konfliktlinien, erscheint es beinahe verwunderlich, dass sich zumindest die vier größten muslimischen Verbände DITIB, IRD, ZMD und VIKZ im April 2007 auf die Bildung der gemeinsamen Spitzenorganisation Koordinationsrat der Muslime (KRM) einigen konnten. Ungeachtet dieses medial prominent begleiteten Zusammenschlusses stellt der KRM jedoch weder die erste Kooperationsform dieser Verbände dar, noch kann er für sich den Status eines zentralen islamischen Spitzenverbandes mit festen Organisationsstrukturen beanspruchen. So spiegeln die bis heute ausstehende Ausarbeitung einer KRM-Satzung und die bei den beteiligten Verbänden sehr unterschiedlichen Vorstellungen in Bezug auf die Intensität der Kooperation (vgl. Kortmann i.E.) anhaltende Differenzen sowie eine fortbestehende Zurückhaltung der Verbände bei der Etablierung gemeinsamer fester Organisationsstrukturen wider.

Zu einer ersten Zusammenarbeit zwischen den muslimischen Dachverbänden, die vor allem die Frage eines islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen im Blick hatten, kam es bereits in den 1990er Jahren. So gründeten Zentralrat und Islamrat 1999 die gemeinsame Kommission für den Islamischen Religionsunterricht (KIRU) und versuchten in der Folge, auf juristischem Wege die Anerkennung als Religionsgemeinschaft nach Art. 7, Abs. 3 GG zu erreichen (vgl. Kiefer 2006: 166). Zu einem Dialog sämtlicher Verbände inklusive der alevitischen AABF kam es schließlich erstmals im Rahmen der Islamforen, die seit 2002 auf Initiative der Vorsitzenden des Interkulturellen Rates Jürgen Micksch und des Rates der Türkeistämmigen Staatsbürger (RTS) Yasar Bilgin auf der Ebene von Bund und Ländern gegründet wurden (vgl. Micksch 2010). Die alevitische Gemeinde schied jedoch bereits im Jahr 2003 nach Differenzen mit den anderen islamischen Organisationen aus dem bundesweiten Forum wieder aus, wobei sich Micksch und Süssmuth (2005) über eine „bewusste antisunnitische Stimmungsmache“ beklagten, die die Zusammenarbeit erschwert habe. Von sunnitischer Seite wird demgegenüber die Zugehörigkeit der AlevitInnen zum Islam immer wieder infrage gestellt und eine Zusammenarbeit mit diesen innerhalb islamischer Foren daher auch grundsätzlich kritisch gesehen.

Organisatorische Zusammenschlüsse von DITIB, VIKZ, IRD und ZMD existierten darüber hinaus seit 1997 auf der Ebene der Bundesländer in Form von SCHURA-Verbänden, in denen eine Kooperation in der Frage des islamischen Religionsunterrichts oder in Moscheebauprojekten vereinbart wurde. Der Versuch, ausgehend von den SCHURA-Verbänden in den Ländern auch auf Bundesebene einen gemeinsamen muslimischen Ansprechpartner zu installieren, scheiterte einerseits an der Zurückhaltung der DITIB (vgl. Micksch/Süssmuth 2005, Rosenow/Kortmann 2011). Andererseits wurden die Pläne durch die auf Bundesebene im Jahr 2006 eingerichtete Deutsche Islamkonferenz (DIK) eingeholt, im Rahmen derer der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble auf Bundesebene VertreterInnen der islamischen Dachverbände inklusive der AABF zu Gesprächen einlud. Für DITIB, VIKZ, IRD und ZMD bildete diese Bedeutungsaufwertung einen neuen Ansporn, dem deutschen Staat einen gemeinsamen Ansprechpartner zu bieten und mit dem KRM ein gemeinsames Spitzengremium zu bilden.

Von politischer Seite wurde die Bildung des KRM jedoch zurückhaltend aufgenommen, da dieser angesichts der großen Zahl der nicht-organisierten MuslimInnen sowie der unabhängigen Moscheegemeinden keinen Alleinvertretungsanspruch aller MuslimInnen in Deutschland beanspruchen könne (vgl. Azzaoui 2011). Der im Jahr 2010 angelaufene DIK II-Prozess, an dem zwei wichtige KRM-Mitglieder (IRD und ZMD) nicht wieder teilnehmen, zeigt schließlich, dass der Staat weiterhin die einzelnen Dachverbände als Ansprechpartner ansieht und ihnen unterschiedliche Unterstützung und Anerkennung zukommen lässt (Rosenow i.E.).

Zwischen Konflikt und Kooperation: Möglichkeiten und Grenzen eines einheitlichen islamischen Dachverbands aus organisationssoziologischer Sicht

Zu einem besseren Verständnis der dynamischen Organisationslandschaft muslimischer Verbände in Deutschland kann eine organisationssoziologische Perspektive einen Beitrag leisten: Einerseits bettet sie die Aushandlungsprozesse um Legitimität, Status und finanzielle Unterstützung in den Kontext eines organisationalen Feldes ein, das die unterschiedlichen (transnationalen) Erwartungshaltungen und Opportunitäten in den Blick nimmt. Andererseits ermöglicht diese Perspektive einen Blick in die organisationsinternen Aushandlungsprozesse, in denen Widersprüche zwischen einer Mitglieder- und einer Einflusslogik zu Tage treten (Schmitter/Streeck 1999). Dabei werden folgende Möglichkeiten und Grenzen für die Bildung eines einheitlichen islamischen Dachverbands sichtbar:

  1. In Bezug auf die externen Erwartungshaltungen innerhalb des organisationalen Feldes lässt sich feststellen, dass die politische Forderung nach einem einheitlichen Ansprechpartner sowie die legalen Anforderungen zur Anerkennung als Religionsgemeinschaft oder Körperschaft des öffentlichen Rechts den Kooperationsanreiz für die Verbände erhöhen. Gleichzeitig haben auch politische Veränderungen in der Türkei unter Premierminister Erdoğan eine engere Kooperation der vormals konkurrierenden muslimischen Dachverbände in Deutschland gefördert.
  2. In Bezug auf die interorganisationalen Aushandlungsprozesse kann jedoch beobachtet werden, dass die Bereitschaft zur Aufgabe von Machtpositionen innerhalb des Feldes und zur Abgabe von Kompetenzen an eine durch alle Moscheegemeinden legitimierte Religionsgemeinschaft unterschiedlich ausgeprägt ist. Dabei stehen sowohl Fragen nach der eigenen organisationalen Legitimität und Effizienz als auch nach der Praktikabilität einer inhaltlichen Einigung beispielweise in Bezug auf den islamischen Religionsunterricht im Raum. Je größer der Erfolg des Verbandes als unabhängiger Akteur wahrgenommen wird, desto geringer ist das Kooperationsinteresse ausgeprägt. 
  3. In Bezug auf die organisationsinternen Aushandlungsprozesse zeigt sich schließlich, dass einerseits eine Bereitschaft zur Kooperation seitens der Verbände besteht, andererseits aber auch Kritik an der politischen Forderung eines institutionalisierten einheitlichen Ansprechpartners laut wird. Die organisierten MuslimInnen sind dabei je nach Generation mehr oder weniger kooperationsskeptisch, was mit der Geschichte der organisationalen Konkurrenz insbesondere in der Türkei als Hauptherkunftsland zu erklären ist. Dabei treten jedoch auch in Bezug auf die Funktion der muslimischen Dachverbände Unterschiede zu Tage. Während der ZMD als Interessenverband sogar bereit ist, seine eigenen Strukturen aufzulösen, sollte es zur erfolgreichen Etablierung einer islamischen Religionsgemeinschaft auf Bundes- und Landesebene in Deutschland kommen, gehen die Religionsgemeinschaften IGMG und VIKZ von einem parallelen Fortbestand ihrer Organisationen aus. Die DITIB selbst versucht auf Grund ihrer dominanten Stellung innerhalb des Feldes die interorganisationale Kooperation auf den Bereich der gemeinsamen Lobbyarbeit für die Integration des Islams zu beschränken. Durch die Schaffung von Länderstrukturen stellt sie seit 2009 auch regionale Ansprechpartner für die Politik zur Verfügung, um die Voraussetzung für die Erteilung des islamischen Religionsunterrichts unabhängig von den anderen Verbänden zu erfüllen.

Diese organisations- und feldinternen Aushandlungsprozesse der muslimischen Dachverbände lassen sich somit durch eine Kombination von neo-institutionalistischen Annahmen bezüglich des Strebens nach Legitimation und Ansätzen der Verbändeforschung, welche auf die besondere Bedeutung der Organisationsmitglieder hinweisen, analysieren. Inwieweit die Verbände sich an ihre jeweilige Umwelt anpassen oder Strategien der Entkopplung und des Protestes wählen, wird bezogen auf die DITIB, die IGMG und den ZMD von Rosenow (i.E.) untersucht. Dabei werden zur Erklärung von Unterschieden im organisationalen Verhalten sowohl die Abhängigkeit der Organisation von der Organisationsumwelt („Einflusslogik“) und von ihren Mitgliedern („Mitgliederlogik“) als auch die Übereinstimmung oder der Konflikt zwischen den externen und internen Erwartungshaltungen herangezogen

Kortmann (i.E.) hingegen zeigt auf, welche Bedeutung die politischen Gelegenheitsstrukturen im jeweiligen nationalen Kontext für die Organisationsentwicklung haben, wobei er die deutschen und die niederländischen Rahmenbedingungen miteinander vergleicht. Dabei ist für Deutschland zu beobachten, dass die im Grundgesetz und im Staatskirchenrecht festgelegte Option einer Anerkennung als Religionsgemeinschaft und als Körperschaft des Öffentlichen Rechts eine Gelegenheitsstruktur auch für islamische Organisationen bietet, welche bisher jedoch nur von wenigen Verbänden – in Ansätzen – genutzt werden konnte.

Beide Arbeiten zeigen dabei, dass die Analyse des internen und externen Organisationskontextes zu einem besseren Verständnis des organisationalen Verhaltens beitragen kann, wobei die Vielfalt von Erwartungshaltungen und Möglichkeiten auf die Heterogenität der muslimischen AkteurInnen trifft und zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen führt. Zwar ist im Sinne der eingangs präsentierten „Einflusslogik“ eine Anpassung der Verbände an die politischen Forderungen zu erwarten, diese Anpassungstendenz fällt jedoch umso stärker aus, je höher das Angebot an Ressourcen wie Status, Legitimität und finanzieller Unterstützung von deutscher Seite ist.

Da dieses Angebot für jeden Verband unterschiedlich ausfällt und auch die internen Erwartungen aufgrund der heterogenen Organisationsidentitäten divergieren, kann es zu unterschiedlichen Standpunkten der Dachverbände innerhalb der Debatten kommen. Insgesamt beobachten die Verbände somit die politischen Erwartungen und die Gelegenheitsstrukturen sehr genau und bewerten diese auch durchaus kritisch oder weisen sie gegebenenfalls als ungenügend zurück. Das Protestverhalten des IRD und des ZMD im Hinblick auf die DIK II beispielsweise kann mit Hilfe dieses Ansatzes sowohl auf die mangelnden politischen Angebote als auch auf die Kritik der Organisationsmitglieder im Sinne der „Mitgliederlogik“ zurückgeführt werden.

Fazit: Die gesellschaftliche Rolle islamischer Verbände in Deutschland

Die muslimischen Dachverbände erfüllen verschiedene Aufgaben innerhalb Deutschlands, weshalb Sezgin (2010) sie als „multi-tasking“-Organisationen beschreibt, die nicht nur die Mitglieder- und Einflusslogik ausbalancieren, sondern auch Ankunftsland- und Herkunftslandorientierung miteinander verbinden, anstatt sich für nur eine Perspektive zu entscheiden. Für die ihnen angeschlossenen Moscheegemeinden sind sie Ansprechpartner und Organisatoren von Dienstleistungen, die oft über den religiösen Bereich hinausgehen. Gleichzeitig bleibt die religiöse Dimension jedoch zentral für die Verbände, was sich in ihrer Selbstdefinition als islamische Religionsgemeinschaften ausdrückt.

Für ihre institutionelle Umwelt gelten die Dachverbände als Ansprechpartner und Brückenbauer, wenn es um die Integration des Islams in Deutschland sowie die weiterhin auszuhandelnden Institutionalisierungsprozesse geht. Dabei sind die unterschiedlichen Verbandsstrukturen seit den 1980er Jahren unabhängig voneinander gewachsen. Dies erschwert einerseits die politisch erwarteten Verschmelzungsprozesse, andererseits bleibt auch die Frage der Notwendigkeit einer einheitlichen Vertretungsform weiterhin offen.

Letztendlich müsste ein Schritt zur institutionalisierten Kooperation von den AkteurInnen selbst mitgetragen werden, wobei auch die Einbeziehung der unabhängigen Moscheegemeinden zentral erscheint. Hierfür sind jedoch - unter dem Motto fordern und fördern - auch klare Zusagen seitens des Staates notwendig. Nur durch die Bereitstellung von Ressourcen in Form von Legitimität, Status und finanzieller Unterstützung wird eine stärkere Ausrichtung der Verbände am Ankunftskontext und die Loslösung von Herkunftslandabhängigkeiten ermöglicht. Dabei erscheint jedoch gleichzeitig die Akzeptanz einer sowohl-als-auch-Identität in Bezug auf Ankunfts- und Herkunftslandkultur notwendig, da diese hybriden Identitäten der gelebten sozialen Realität vieler MuslimInnen entsprechen und nicht per se hinderlich für die Integration sein müssen.

 

Endnoten

(1)  Zuletzt sorgten die Veröffentlichung des Buches „Deutschland schafft sich ab“ durch Thilo Sarrazin sowie die Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit, in der er den Islam als einen Teil Deutschlands beschreibt, für ein Auflodern der teils hitzig geführten Diskussion.
(2)  Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) bildet nach Art. 140 GG Bestandteil des Grundgesetzes.
(3)  Bisher konnten nur die Islamische Föderation Berlin (IFB) sowie die alevitische AABF in einigen Bundesländern eine Anerkennung als Religionsgemeinschaften nach Art. 7 GG erreichen und somit Religionsunterricht an ausgewählten Schulen anbieten (Jonker 2002b; DIK 2009).

Literatur

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Kerstin Rosenow, Dipl. Soziologin, ist wiss. Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Uni Bochum. Dr. Matthias Kortmann ist Koordinator des Graduiertenkollegs „Zivilgesellschaftliche Verständigungsprozesse“.