Eine demokratische Gesellschaft kann nur Bestand haben, wenn wir sie verteidigen

Interview

Ein Gespräch mit der Autorin und Bloggerin Rasha Khayat über Identität, Zugehörigkeit und Ankommen und die Rolle von Kunst und Literatur in verstörenden und turbulenten Zeiten.

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Die Autorin und Bloggerin Rasha Khayat

Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Rasha, du bist Autorin, Bloggerin und literarische Übersetzerin. 2016 erschien dein Debütroman „Weil wir längst woanders sind“ im Dumont Verlag. Deine Kindheit hast du in Jeddah (Saudi-Arabien) verbracht, bis deine Familie 1988 wieder nach Deutschland zurückkehrte. Wie schwer war es für dich als Kind, alte Freunde zurückzulassen und neue zu finden?

Rasha Khayat: Es war schwer. Nicht nur wegen der Freunde, sondern auch wegen der Familie und des Umfelds im Allgemeinen. Die Sonne und das Meer haben mir sehr gefehlt, ebenso wie das arabische Essen. 1988 gab es noch kein Internet und im Prinzip keine Möglichkeit, den Kontakt zu alten Freunden aufrecht zu erhalten oder sich seine „alte“ Welt irgendwie ins neue Leben mit herüber zu retten, wie zum Beispiel durch YouTube-Videos von Lieblingssendungen im Fernsehen.

Das Wegfallen all dieser vertrauten und geliebten Grundsteine hat mich sehr geprägt. Neue Freunde in Deutschland zu finden, war nicht leicht, weil niemand die Welt kannte, aus der ich kam, und niemand wusste, wovon ich redete, wenn ich sagte, ich vermisse „Muluchia“ – bis heute mein arabisches Lieblingsgericht. Ebenso wenig kannte ich die Fernsehsendungen oder Spiele, die für die deutschen Kinder ganz vertraut waren. Es war eine schwere, verwirrende Zeit, durch die ich mich, glaube ich, vor allem durch's Lesen gerettet habe.

Und wie kamst du zum Lesen? Welcher war dein erster Roman?

Meine deutsche Oma war maßgeblich dafür verantwortlich, in mir die Liebe zu Büchern zu wecken. Sie hat mir von klein auf vorgelesen. Sie war eine absolut begnadete Vorleserin, und ich konnte ihr Stunde um Stunde zuhören. Teilweise kannten wir beide die Geschichten und Bücher schon auswendig, trotzdem konnte ich nie genug davon bekommen. So kam ich dann automatisch auch zum Lesen. Als wir dann 1988 nach Deutschland kamen, fühlte ich mich sehr einsam und als komplette Außenseiterin; da hat meine Mutter mir eine Mitgliedskarte für die Stadtbücherei machen lassen, und ich glaube bis heute, das war meine Rettung und wahrscheinlich auch der Grundstein für die Schriftstellerei. Ich las, um mein Deutsch zu verbessern, aber vor allem auch, weil man als Außenseiter in den Büchern und Geschichten oft Freunde und Gleichgesinnte findet, die dir zeigen: Du bist nicht allein. Das war wundervoll für mich.

Mein erster Roman… schwierige Frage; die erste literarische Figur, mit der ich mich komplett identifiziert habe, war „Anne auf Green Gables“, da war ich wohl so ungefähr zehn oder elf – sie hatte auch rote Haare und kam in eine fremde Welt, in der sie sich erstmal zurecht finden musste, wenn auch auf ganz andere Weise als ich selbst. Im Gegensatz zu mir  war Anne selbstbewusst und voller Vertrauen in sich und die Menschen um sie herum. Das hat mir imponiert und ich wollte so sein wie sie. Außerdem teilten wir die Leidenschaft für's Lesen und für Kleider mit Puffärmeln.

 

Rasha Khayat, geboren 1978 in Dortmund, wuchs zwischen 1980-88 in Jeddah, Saudi Arabien auf. 1988 kehrt sie mit ihrer Familie nach Deutschland zurück, wo sie 1999 nach ihrem Abitur in Bonn Komparatistik, Germanistik und Philosophie studiert. Sie verfolgt zunächst eine Verlagslaufbahn, arbeitet in einer Londoner Literaturagentur und dann als Lektorin im Rowohlt Verlag. Seit 2006 lebt sie als freie Autorin, Übersetzerin und Bloggerin – neben mehreren Stipendienaufenthalten im Ausland – in Hamburg. Als Bloggerin: www.westoestlichediva.com

Publikationen:

2016, Debütroman: Weil wir längst woanders sind, DuMont Verlag, Köln sowie Essays und Kurzgeschichten in verschiedenen Magazinen.

Auszeichnungen:

  • 2010 – Stipendium der Jürgen Ponto Stiftung
  • 2014 – Aufenthaltsstipendium der Stiftung kunst:raum Syltquelle
  • 2016 – Writer in Residence an der University of East Anglia, UK
  • 2017 – Siegfried Lenz Fellowship am Ledig House, New York
  • 2017 – Grenzgänger Stipendium der Robert Bosch Stiftung
  • 2018 – Max Kade Fellowship, International Writing Program, University of Iowa

In deinem Roman „Weil wir längst woanders sind“ beschreibt der Protagonist Basil die Folgen von Migration (auf Grundlage seiner eigenen Familiengeschichte) mit folgenden Worten: „Die Bewegungswut meiner Ahnen bildet das Dilemma meines Lebens – Gehen oder Bleiben.“ Findet deiner Meinung nach eine Vererbung von inneren Konflikten der Eltern- bzw. Großelterngeneration statt, die durch die Migration ausgelöst wurde? Oder anders gefragt, müssen sich Kinder verstärkt mit den Folgen und Spätwirkungen der elterlichen Migration auseinandersetzen, um irgendwann doch endlich anzukommen?

Ich glaube, das kann man so pauschal nicht beantworten, weil es so wahnsinnig viele unterschiedliche Gründe und Umstände für Migration gibt. Jemand, der aus politischen Gründen sein Land verlassen muss, wird andere Traumata vererben, als vielleicht jemand, der aus wirtschaftlichen Gründen immigriert.

Aber ja, es ist immer gut, sich mit der Geschichte seiner Eltern und Großeltern zu befassen, um zu verstehen, welche Rolle man selbst in dieser Kette einnimmt. Das gilt übrigens auch für Menschen ohne Migrationsgeschichte. Vor allem muss man, glaube ich, aber verstehen lernen, dass es ein „Ankommen“ in dem Sinne vielleicht gar nicht geben kann, und dass das auch okay ist. Und, dass das äußere Umfeld des „neuen“ Heimatlandes eine große Rolle dabei spielt, ob und wie man ankommt, wenn überhaupt. Wie werde ich, wie wird meine Familie gesehen? Wie werden wir akzeptiert? Stellt man uns ehrliche Fragen, oder begegnet man uns nur mit Vorurteilen und Selbstgerechtigkeit? Sowohl im Falle der elterlichen Geschichte wie auch wenn es um's Umfeld geht, ist das Stichwort: Empathie.  

Die Protagonisten Basil und Layla sind von Identitätskonflikten geplagt. An einer Stelle heißt es bei dir so schön: „Die Menschen finden dich interessant, aber die Brüche, die verstehen sie nicht.“ Was müsste passieren, damit Brüche verstanden werden? Oder ist dies gar nicht möglich?

Je mehr man selbst seine Brüche versteht, akzeptiert und auch lieben lernt, umso mehr wird man in der Lage sein, sie anderen Menschen auch erklären zu können. Ich bezweifle allerdings, dass es am Ende wirklich ein richtiges, tiefes Verständnis geben kann, wenn sich Erfahrungen und Prägungen so sehr unterscheiden. Das muss ja aber gar nicht schlimm sein, solange der Respekt für's Gegenüber gewährleistet ist und man Unterschiede auch stehen lassen kann.

Tatsächlich merke ich an mir selbst, dass ich inzwischen oft keine Lust mehr habe, mich anderen zu erklären und es zumindest für enge Beziehungen und Freundschaften bevorzuge, mich mit Leuten zu umgeben, die gewisse Erfahrungen teilen und wo man sich eben tatsächlich gar nicht erklären muss.

 

Nach den Bundestagswahlen 2017 ist mit der AfD seit langer Zeit wieder eine rechtspopulistische Partei in den Deutschen Bundestag eingezogen und aktuell die stärkste Oppositionspartei. Ähnliche Tendenzen lassen sich in vielen europäischen Ländern beobachten. Was meinst du sind die Gründe für das Erstarken von rechten Parteien in Europa? Liegt es an den Flüchtlingen, ist es das Aufbrechen einer latenten Xenophobie?

Ich vermute, dass diese sogenannte „Flüchtlingskrise“ lediglich der Auslöser für etwas war, was eigentlich schon sehr lange in der Gesellschaft unterschwellig brodelt. Die Welt hat sich in den letzten 10, 15 Jahren sehr schnell sehr stark verändert – Internet, Globalisierung usw. Das überfordert viele Menschen und macht Angst. Man glaubt, man wird abgehängt, man versteht die Welt nicht mehr, im wahrsten Sinne des Wortes. Das kann ich gut nachvollziehen. Und dann sucht man wohl einfach nach Schuldigen oder nach einem Feindbild, jemanden, auf den man all seine Ängste und seine Überforderung übertragen kann. Am Ende sehnt sich der Mensch ja doch nach Vereinfachung.

Dass diese Überforderung zurzeit so sehr in Hass und Gewalt „Fremden“ gegenüber Gestalt annimmt, finde ich geradezu unerträglich, weil es so dumm ist, und herzlos. Und so sehr ich Überforderung und Angst auch verstehe und respektieren möchte, für Herzlosigkeit und Dummheit gibt es einfach keine Entschuldigung.  

Wie wichtig ist Literatur in diesen verstörenden und weltpolitisch turbulenten Zeiten und was kann sie bewirken?

Sicherlich ist es sehr idealistisch gedacht, aber Kunst und Literatur sind für mich in dieser Zeit aus zweierlei Gründen geradezu unverzichtbar. Zum einen fördert nichts in der Welt Herzensbildung und Empathie so sehr wie Kunst, Literatur, Theater. Sich über das Vehikel einer fiktiven Geschichte den Gefühlen anderer anzunähern, Feinheiten zu verstehen und sich selbst gespiegelt zu finden, das kann nur Kunst.

Zum anderen herrscht zurzeit ja gefühlt so etwas wie ein Diktat der Dummheit (Trump!), und gerade da ist es für mich wichtig, zu sehen und zu hören, was kluge und besonnene Stimmen zu sagen haben. Wenn man sich beispielsweise Texte von Hannah Arendt oder auch die Reportagen von Joan Didion aus den 90er Jahren vornimmt, kann man sehen, dass sich ein turbulentes Weltgefühl im Grunde immer zyklisch wiederholt. Mich persönlich erleichtert das, denn das heißt – es geht auch wieder vorbei, wird wieder besser.

Außerdem – aber das ist wirklich nur mein persönliches Gefühl – tröstet mich nichts so sehr wie Literatur und Kunst. Wenn mich die Nachrichtenlage mal wieder zu sehr aufwühlt, wütend macht, frustriert, gehe ich in eine Ausstellung oder greife zu einem Buch, und ich werde ruhiger und tanke neue Kraft.  

In deinem Blog „West-Östliche Diva“, den du als „das deutsche Fenster zu Arabistan" bezeichnest und seit 2010 betreibst, greifst du oft politische Themen auf. Ist das Bloggen bzw. generell das Schreiben eine Art Ventil für dich?

Unbedingt! Vor allem das Bloggen hat geradezu etwas Therapeutisches für mich, weil ich schnell und auf kurzem Raum meiner Wut Luft machen kann, die ich oft in alltäglichen Situationen empfinde. Zum Beispiel beim G20-Gipfel in Hamburg – gar nicht so sehr wegen seiner großen Bedeutung, sondern vielmehr, was diese Veranstaltung für uns als Bürger dieser Stadt angerichtet hat. Das hat mich wahnsinnig wütend gemacht, und das musste raus. Mir ist es wichtig, Haltung zu zeigen, weil ich der Meinung bin, dass eine demokratische Gesellschaft nur Bestand haben kann, wenn wir sie verteidigen. Im Moment sind die Stimmen viel zu laut, die gegen all das argumentieren, was ich an diesem Land und an unserem Grundgesetz mag und schätze. Da kann ich den Mund nicht halten.

Beim literarischen Schreiben ist es etwas anders, weil das einfach länger dauert, ein längerer Prozess ist. Da denkt man Wochen, Monate, Jahre über ein Thema nach, seziert Gefühle und Beziehungen, bis sich dann am Ende ein Text draus machen lässt. Trotzdem ist es sicherlich auch ein Ventil für etwas; nur ein sehr langsames. Da denke ich auch sehr viel weniger an andere, also an ein Publikum oder an eine direkte Wirkung. Literarisches Schreiben und Nachdenken ist bei mir immer ein sehr langer Meditationsprozess für mich selbst, ehe das Resultat dann in die Welt geschickt wird.  

Erfährst du in deinen Leserbriefen und anderweitigen Feedbacks auch Anfeindungen? Wie gehst du damit um?

Insgesamt habe ich glücklicherweise sehr viel positiven Zuspruch erfahren, witzigerweise vor allem von migrantisch-stämmigen Menschen – da habe ich oft gehört: „Genau so ist es! Danke, dass Du das so schreibst!“ Das berührt mich immer sehr, und dafür bin ich dankbar.

Aber es gab auch sehr viele negative Reaktionen. Als beispielsweise einmal ein Beitrag über mich im Fernsehen gesendet wurde, ist mein Email-Postfach hinterher geradezu explodiert. Die Mails hatten dann Betreffzeilen wie: „Sie werben für Terror!!!“ oder „DANN HAU DOCH AB!“. Danach habe ich sämtliche Kontaktmöglichkeiten von meiner Website entfernt. Nun muss man an meinen Verlag schreiben, wenn man mich beleidigen will.

Bei einer Lesung vor ein paar Wochen kam eine ältere Dame nach der Veranstaltung zu mir, schlug mit einer Zeitung auf den Tisch und sagte: „Ich bin nur gekommen, um Ihnen die Meinung zu sagen!“ Sie hatte in der Zeitung die Vorankündigung meiner Lesung gesehen und sich mit Textmarker ein paar Zitate angestrichen, die ihr offenbar nicht passten. Sowas passiert ziemlich häufig. Das macht mir immer wieder sehr zu schaffen, wenn Leute so persönlich werden und Grenzen überschreiten. Andererseits scheint meine Arbeit ja etwas in Menschen zu bewegen – und das ist ja erstmal nicht schlecht. Ein guter Freund hat es einmal so formuliert: „Es hätte nicht getroffen, träfe es nicht zu!“ 

Auf einer Skala von 1-10, wie nervig ist die Frage, ob der eigene literarische Text auf dem eigenen Leben basiert?

Auf einer Skala von 1-10 ist es eine 12 (Lacht).

Seit Anfang des Jahres ist dein Roman „Weil wir längst woanders sind“ in arabischer Übersetzung erhältlich. Was ist es für ein Gefühl, das Erstlingswerk in arabischer Übersetzung in den Händen zu halten? Kannst du schon etwas über die Resonanz sagen?

Als ich die Übersetzung zum ersten Mal in den Händen hielt, habe ich geweint vor Glück. Es war sehr überwältigend, den eigenen Text in der Sprache zu lesen, in der ich ihn selbst vielleicht hätte schreiben können, wäre mein Leben anders verlaufen. Meine arabische Familie hat die letzten Jahre alles mit begleitet, die Lesereisen usw., über Facebook und Instagram etc., nur konnten sie das Buch eben nie lesen. Dass ich Ihnen jetzt meine Arbeit schicken konnte, war ein großes Geschenk. Sie sagen, sie mochten es alle sehr.

Über die öffentliche Resonanz weiß ich leider noch nichts. Ich glaube, es hat ein paar Rezensionen gegeben, in Ägypten vor allem, aber ansonsten kann ich da leider noch nichts zu sagen.

Was würdest du auf keinen Fall mitnehmen, wenn du auf eine einsame Insel müsstest?

Mein iPhone und meinen Laptop – wenn schon abgeschnitten von der Welt, dann richtig!

Vielen Dank für das Interview!

Das Gespräch führten Safiye Can und Hakan Akçit.