Checklisten reichen nicht: Religiöse Vielfalt in Kunst und Kultur

Interview

Kunst ist universell und kann doch ein starkes Mittel gesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Abgrenzung sein. Über das integrative und politische Potenzial von Kunst und Kultur, künstlerische Übersetzungsleistungen und geeignete Tools für einen institutionellen Mentalitätswandel sprechen Esra Küçük und Dr. Asmaa Soliman im Interview.

"Atelier Identity"- Vernissage

Lucie Kretschmer: Frau Küçük, inwiefern spielen Religion und Weltanschauung in Ihrer Arbeit als Geschäftsführerin der Allianz Kulturstiftung überhaupt eine Rolle? 

Esra Küçük: Wir sind eine Kulturstiftung, die sich für den Zusammenhalt in Europa stark macht. Dabei haben wir selbstverständlich auch Diskurse im Blick, die das Potenzial haben, gesellschaftlich zu spalten, beispielsweise Fragen nach dem Umgang mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit.

Fragen wie: Wie gehen wir mit Minderheiten in Europa um und welchen gesellschaftlichen Stellenwert geben wir ihnen in europäischen Gesellschaften? Religion im Sinne eines Glaubensbekenntnisses spielt in unserer Arbeit keine Rolle. Wir fördern keine religiösen Projekte. Aber da Muslim*innen in Deutschland und in Europa eine der größten Minderheiten sind, ist das Thema in unserer Arbeit natürlich präsent.

Frau Dr. Soliman, Sie leiten die Junge Islam Konferenz und gemeinsam mit einer Kollegin das Kompetenznetzwerk Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft bei der Schwarzkopf-Stiftung Junges Europa. Welche Rolle spielen Kunst und Kultur in Ihrer Arbeit?

Asmaa Soliman: Wir glauben, dass wir für den Dialog und das Zusammenkommen rund um das Thema Islam in Deutschland, aber auch allgemein Vielfalt und Zusammenleben in der Einwanderungsgesellschaft, unterschiedliche Werkzeuge brauchen. Auch wenn Diskussionsformate relevant und unverzichtbar sind, sehe ich starkes Potenzial im Bereich Kunst und Kultur – gerade auch bei jüngeren Menschen, die eine Hauptzielgruppe von uns sind. Von daher kommen Kunst und Kultur immer wieder vor. Sie bieten ein besonderes Sprachrohr. Es ist auch für die Zukunft ein Bereich, den wir noch mehr fördern wollen.

Junge Islam Konferenz - Bundeskonferenz 2019
Junge Islam Konferenz - Bundeskonferenz 2019

Worin liegt das Potenzial von Kunst als Vermittlungsform?

Soliman: In der Kunst steht das Menschliche im Vordergrund. Also das, was uns alle verbindet. Kunst bietet einen Zugang zu schwierigen Themen, die sonst nicht an- oder ausgesprochen werden. Auch Vielfalt und Unterschiedlichkeit werden anders kanalisiert.

Was meinen Sie damit?

Soliman: Denken wir an Musik. Wenn man ein Lied hört oder eine Band etwas spielt, entstehen Gefühle und Reaktionen auf diese Musik, auch wenn Sie die Sprache des Textes nicht verstehen. Das heißt, es ist nicht die Sprache, also das Partikularistische, das eine Reaktion auslöst, sondern das Universale dahinter.

Die Reaktionen der Menschen auf diese Musik sind sehr ähnlich, auch wenn sie nicht unbedingt dasselbe verstehen, auch wenn der Inhalt der Musik oder des Liedes nicht zwangsläufig mit den eigenen Überzeugungen übereinstimmen: Sie bewegen sich mit der Musik. Sie haben auf einmal ein Lächeln im Gesicht. Es entsteht Freude. Sie möchten tanzen. Diese Reaktionen und Emotionen sind so ähnlich, weil sie das Menschliche sind. 

Wirkt der klassische Kunstbetrieb in Deutschland integrierend?

Küçük: Das hängt ganz stark davon ab, von welchem Kunstverständnis Sie ausgehen. Ich stehe ja für den Ansatz, den wir am Berliner Maxim Gorki Theater entwickelt haben, des postmigrantischen Theaters. Wir wollten aufzeigen, wie man einen althergebrachten Kanon in das Heutige, das Zeitgenössische übersetzen kann. Das hieß für uns vor allem, kulturelle Angebote und Kunst für die Gesellschaft zu machen, die wir vorfinden.

Und diese Gesellschaft ist eine, die sich durch Migration verändert hat - darum 'postmigrantisch', also nachdem Migration stattgefunden hat und während sie weiterhin stattfindet. Eine extrem wichtige Frage dabei ist aus meiner Sicht, wer mit dem, was dort in eine kulturelle Praxis gebracht wird, gemeint ist, wer angesprochen, wer mitgedacht ist.

Also geht es darum, wer repräsentiert ist?

Küçük: Eher um die Frage: Wer ist beteiligt? Aber vor allem auch: Um welche Probleme und Themen geht es eigentlich? Um bei dem Beispiel Theater zu bleiben: Theater setzt sich ja aus seiner Tradition heraus kritisch mit Klassenfragen auseinander. Das Theater kommt ursprünglich aus der Arbeiterklasse und reflektiert kritisch Machtstrukturen und gesellschaftliche Schieflagen, Dilemmata und die sich daraus ergebenen Denkmuster. Wenn Kunst dann nicht in der Lage ist, das auf den heutigen Kontext zu übertragen, ist es oft auch keine interessante Kunst für mich. 

Portrait von Esra Küçük
Politikwissenschaftlerin Esra Küçük

Widerspricht das nicht dem, was Frau Soliman gerade gesagt hat – dass Kunst unabhängig von den inhaltlichen Fragen universalistisch funktioniert und deshalb verbindet?

Küçük: Natürlich muss Kunst auch universell funktionieren können. Sie ist auch nicht dazu verpflichtet, sich immer wieder mit sozialen Problemen auseinanderzusetzen. Aber ich glaube, es wird spannend, wenn es mit der Lebenswelt derjenigen zu tun hat, die diese Kunst betrachten. Von daher spielen Aspekte wie class, race und gender in jeder Form von Kunst dann doch immer wieder eine Rolle. Weil wir es am Ende des Tages mit Menschen zu tun haben, die in eine Interaktion mit dieser Kunst treten. 

Woran liegt es, dass das Gorki geschafft hat, was scheinbar so viele andere Institutionen nicht schaffen: unterrepräsentierte Gruppen anzusprechen, sowohl in ihren Themen als auch in Bezug auf die Zusammensetzung des Ensembles? 

Küçük: Vorweg geschickt: Ich bin froh, dass mittlerweile sehr viel mehr Institutionen als das Gorki sich in diese Richtung öffnen und möchte es nicht so darstellen, als ob nur das Gorki es richtig macht.

Was unseren Ansatz aber so erfolgreich gemacht hat, ist, dass Tatsachen geschaffen wurden. Während anderorts noch Ausreden gesucht wurden, warum das Ensemble und das Repertoire nicht diversifiziert werden könnten, haben wir es einfach gemacht. Dadurch wurde deutlich, dass es schlicht nicht mehr haltbar ist, zu sagen: Es gibt diese Schauspieler*innen nicht. Es werden keine Stücke entwickelt, die sich dafür anbieten würden.

Wir haben dieser Argumentation die Grundlage entzogen, indem wir ein klares Beispiel hingestellt haben und gezeigt haben: Das geht. Und zwar auf einem hohen künstlerischen Niveau und nicht als Sozialtheater oder Stadtteilprojekt. Ich glaube, diese Sichtbarkeit, dass das an einem Staatstheater stattfindet und nicht in einem unterfinanzierten Privat-Hinterhoftheater, war das Erfolgsmodell des Gorkis. 

Auf eine Öffnung des Programms und eine Diversifizierung des Ensembles folgt aber vielerorts schnell eine Leitkulturdebatte. 

Küçük: Auf die Frage: "Was ist für Sie deutsch?", sagen viele erstmal „Schiller und Goethe“. Wenn man sich dann aber mal wirklich mit Schiller und Goethe befasst und beispielsweise Goethes West-östlicher Divan liest, merkt man auch, dass es das, was in einem allgemeinen Kontext mit deutscher Leitkultur gemeint ist, gar nicht gibt. Ähnliches gilt für Schillers Biographie.

Gerade auch diese Werke und diese Biografien zeigen, dass es diese Imagination nur in einem gewissen zeitlichen Rahmen zwischen 1933 und 1945 gegeben hat. Ansonsten hat diese Homogenitätsillusion in der deutschen Geschichte als Realität nie existiert. Ich finde, das können Kultur und der Umgang mit kulturellen Gütern auch zeigen – wenn man sie  entsprechend dieser Lesart liest und sich damit auskennt. 

Frau Soliman, Sie hatten den Aspekt der Förderung in Ihrer eigenen Arbeit angesprochen. Was erwarten Sie denn vom Staat in Bezug auf Förderung?

Soliman: Erstmal ist es immer noch der Fall, dass Kunst und Kultur als ein Bereich wahrgenommen wird, der nicht denselben Stellenwert hat wie andere Bereiche. Manche nehmen das als etwas zu Weiches wahr, was nicht so selbstverständlich förderungswürdig ist aus staatlicher Perspektive. 

Und konkret?

Portrait von Asmaa Soliman
Sozialwissenschaftlerin Asmaa Soliman

Soliman: Wichtig bei Förderungen wäre, dass man den Diversitätsaspekt mit beachtet, dass man unsere gesellschaftliche Diversität, diese Unterschiedlichkeiten, die Geschichten, die sonst weniger gehört werden, als Schwerpunkt setzt und mehr fördert. Minderheiten haben oft keinen Zugang zu den Mainstream-Öffentlichkeiten und sind im Mainstream auch oft weniger erwünscht.

Weil sie dort nicht gehört werden, gründen viele eigene Gruppen und Plattformen, die aber natürlich viel weniger Gehör und Platz finden. Der Staat könnte durch eine gezielte Förderpolitik bewirken, dass diese Gegenöffentlichkeiten und schwächeren Öffentlichkeiten mehr in den Mainstream rücken. 

 

Gegen solche Förderpolitik gibt es aber den Einwand, es werde in die Kunstfreiheit eingegriffen. Als die Filmförderung Hamburg und Schleswig-Holstein angefangen hat, an Antragsteller*innen eine Diversity-Checkliste zu verschicken, gab es sehr viel Kritik. Wie löst man dieses Spannungsfeld zwischen Kunstfreiheit einerseits und ungleichen Zugängen andererseits?

Küçük: Ich halte nicht viel von Checklisten. Ich finde, das ist ein unbeholfener Ansatz, etwas verwirklichen zu wollen, was in dieser Form nicht in die Tat umzusetzen ist. Nur weil ich ein Theaterstück mit lauter Frauen schreibe, heißt das nicht, dass der Inhalt, der am Ende dabei herauskommt, frauenfördernd ist. Wenn ich in mein Vorhaben lauter türkeistämmige Männer einbeziehe, muss kein minderheitenfreundliches Projekt entstehen. Diese Beispiele zeigen, dass diversitätsorientierte Kompetenz auch wirklich eine Kompetenz ist und dass man sie erlernen muss. 

Und wie funktioniert das?

Küçük: Wir erlernen ja auch ganz viel, was mit homogenen Strukturen zu tun hat. In verschiedenen Phasen vereinbaren wir unsere Normen und Werte miteinander: Ich schubse Sie nicht auf die Straße, Sie lassen mich ausreden. Früher haben wir uns die Hand gegeben, in Zeiten von Corona anscheinend nicht mehr. All diese Dinge sind Kompetenzen, die eine Gesellschaft für sich definiert als Norm und diese Norm kommt dann in die Praxis.

Vielfältige Teams, vielfältige Umgebungen gut zu finden, zu fördern, sich darin bewegen und arbeiten zu können, ist auch eine Kompetenz, weil natürlich Menschen grundsätzlich - das sehen wir in der Psychologie - eher dazu neigen, Aspekte gut zu finden, die ihnen selber ähnlich sind. 

Die Sozialpsychologie nennt das Similar-to-me-bias. Unbewusste Vorurteile und die Blindheit vieler Menschen für diese Art von Verzerrungen werden aktuell vor allem im Zuge von Polizeigewalt gegen BIPoCs diskutiert. Was bedeuten sie für den Arbeitsalltag in Kunstinstitutionen?

Küçük: Wie in allen anderen Branchen sind sie zuallererst bei Einstellungspraxen wichtig. Eine Jury, die so aussieht, trifft eine gewisse Auswahl. Und eine Jury, die anders zusammengesetzt ist, trifft eine andere Auswahl. Das ist psychologisch erstmal so verhaftet und nicht an sich „böse“. Wenn wir dies verstanden haben, gilt es, diversitätsorientierte Förderpraxen einzuüben. 

„Einüben“ klingt nach Arbeit.

Küçük: Ich glaube, viele denken, dass es ausreicht, einfach nur auch mal jemanden zu beteiligen, der woanders geboren worden ist. Aber dass da ein ganzes Set an Qualifikationen dazu gehört, das ist uns noch nicht so gelungen zu transportieren. Deswegen führen Diversitätsmaßnahmen in Umstrukturierungsprozessen bei Einrichtungen – ob das Kultureinrichtungen oder andere Einrichtungen sind – oft zu Frustration.

Man denkt: Jetzt hat man sich ja schon mal bemüht, hat die Ausschreibung in eine andere Sprache übersetzen lassen, aber es ist trotzdem kein Effekt entstanden. Dass das ein langer Prozess ist und Arbeit bedeutet, das ist die schwierige Seite daran. Darum braucht es auch Menschen, die die Kompetenzen aufgebaut haben, die man einbeziehen kann. Darum braucht es auch Ressourcen, wenn man sich dafür entscheidet, diesen Weg zu gehen. 

Religiosität ist ja oft gar nicht sichtbar. Viele Menschen finden, dass ihre Religionszugehörigkeit ihre*n Arbeitgeber*in nichts angeht. Und das Grundgesetz schützt das Recht, sich nicht zur eigenen Religiosität zu äußern. Ist Religion/Weltanschauung überhaupt eine geeignete Kategorie für Diversität, wenn sie gar nicht erhoben wird oder erhoben werden darf?

Soliman: Dieser Zwiespalt zwischen äußerlichen Merkmalen, an denen man sich festhalten und die man statistisch abbilden kann, und Aspekten, die nicht so eindeutig und fassbar sind und mit Gefühlen, Strukturen und Denkmustern zu tun haben, ist immer schwierig.

Es ist ein Spagat, nicht nur auf das Äußere zu schauen, nicht zu sagen: "Ich habe jetzt eine Frau mit Kopftuch bei mir im Unternehmen, also haben wir jetzt Diversität bei uns in der Organisation" und dann ein schönes Bild auf die Homepage zu setzen. Man sollte Themen und Inhalte einbeziehen sowie den Umgang miteinander und diese ganzen Aspekte, die nicht unbedingt so fassbar sind.

Inwiefern helfen Maßnahmen zur Diversitätsentwicklung?

Soliman: Die diversitätsorientierten Kompetenzen zu erlernen ist nichts, was mit einem Workshop getan ist, so dass man danach sagen könnte: Ich bin jetzt offener. Prozesse zur Diversitätsentwicklung können nur erfolgreich sein, wenn eine Offenheit in der Organisation besteht, wohin sie sich entwickeln. Natürlich kann man vorher bestimmte statistische Zielgrößen festlegen.

Doch sie werden nie ausreichen, um diese Diversitätsöffnung auch sicherzustellen. Diese Offenheit für Entwicklungen, für Themen, für Gedanken, für Strukturen hat sehr viel mit Einstellungen zu tun, die man nicht von heute auf morgen ändert und wofür es auch eine hohe Bereitschaft einzelner Menschen bedarf. Es gibt hier keinen Königsweg. Aber ganz sicher ist: Es reicht nicht, sich auf das Äußere zu reduzieren und eine Checkliste abzuhaken.

Vielen Dank für das Gespräch! 

Die Fragen stellte Lucie Kretschmer.