Rechter Terror ist eine Gefahr für uns alle

Rede

Anlässlich des zweiten Jahrestags des Anschlags von Hanau diskutierten wir am 15. Februar im Ballhaus Naunynstraße in Berlin über die Frage der „Sicherheit für alle“ in einer offenen Gesellschaft. In ihrem Impulsvortrag sprach die Autorin Esther Dischereit über die Kontinuitäten rechter Gewalt und behördlichen Versagens in Deutschland, die Bedeutung der Zeugnisse von Betroffenen und die Frage, warum rechter Terror eine Gefahr für uns alle ist.

Esther Dischereit auf der Veranstaltung "Sicherheit für alle"

Während ich hier stehe und zu Ihnen spreche, muss ich daran denken, wie hier vor mehr als zehn Jahren Nurkan Erpulat und Jens Hillje das Stück „Verrücktes Blut“ nach Jean-Paul Lilienfelds Film La Journée de la Jupe auf die Bühne brachten. Sie hatten damit Anteil an dem, was wir „Kanakisierung“ der Gesellschaft nennen können, und es handelt sich im Kern um die bewusste und selbstbewusste Darstellung der Zugewanderten, Eingewanderten, als Geflüchtete vor Krieg oder Folter Gekommenen – später hieß das migrantisches oder postmigrantisches Theater. Eine Rezensentin schrieb damals: „Sie rotzen, kratzen sich im Schritt, labern sich schräg von der Seite an, quatschen laut in ihr Handy, rücken sich in Pose und ihre Haare zurecht. Nervtötende Maschen pubertierender Jugendlicher sind das, ‚Kanakengesten‘.“ Das mischte auf.

Die jüdischen Gemeinschaften in Deutschland waren bereits um Zuwanderer*innen aus der ehemaligen Sowjetunion, den GUS-Staaten, gewachsen, und damit war zunächst ihre Weiterexistenz gerettet.

Die Gesellschaft der Vielen und der Gleichen

09.09.2010, das war das Premierendatum in Berlin. Seitdem haben sich Sprach- und Sprechformen geändert, vom Fremden und Ausländer*in, zu Migrant*innen, zu Menschen mit Migrationshintergrund bis hin zur postmigrantischen oder der Gesellschaft der – Vielen. Die Auffassung von der Gesellschaft der Vielen geht nicht mehr von einer Betrachtung der Mehrheit und Minderheit aus, ein Zustand, in der die Minderheiten per se in gewisser Hinsicht „verloren“ haben. Eine Minderheit wird keine Mehrheit, bedarf des Schutzes, in gewisser Hinsicht sogar der Fürsorge. Das ist eine anstrengende Position.

Gehe ich stattdessen davon aus, dass wir uns auf einem vielstimmigen Marktplatz befinden, – ich könnte mir vorstellen, dass ich diesen Ausdruck das erste Mal von Manuela Bogdanovic hörte –, dann gehe ich von einer Gesellschaft der Gleichen aus, der bürger- und menschenrechtlich Gleichen, und das möchte ich gerne.

Was hat das mit dem Erpulat-Stück zu tun? Insofern die „Gleichen“ ihre Gleichheit einfordern, so taten sie das unter Beanspruchung einer Beibehaltung von Diversität. Hier ist es also nicht das Ziel, in der Gesellschaft der „Ungleichen“ aufzugehen, sich unkenntlich zu machen, um dazuzugehören, sondern auf einem Anspruch des Eigenen zu bestehen. Das hat Konsequenzen: Moscheen dürfen sein, sollen sein, der Ruf des Muezzin, das muss noch ausgehandelt werden, die Kirchenglocken – nun ja. Während der Bau und das Betreiben von Moscheen vielerorts hintertrieben wird, verhält es sich mit unzähligen Synagogalbauten, die rekonstruiert und in denen keine Gottesdienste mehr stattfinden können, weil es keine jüdische Bevölkerung mehr gibt, die sie füllen könnte, anders: sie werden hergerichtet. Wie Stein gewordene Läuterung der deutschen Seele, ein Problem für die jüdischen Gemeinden, deren schmale Ressourcen gebunden werden.

Sicherheit für alle?

Unübersehbar ist eine Bildungsungerechtigkeit, Sprachdiskriminierung, Verweigerung auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Wir stehen aber heute nicht hier, um darüber zu sprechen. Leider nicht. Ungerechtigkeiten sind schwer zu ertragen, erfordern Protest und Kampf, einmal ist das mit der Abschaffung der Leichtlohngruppen 1 und 2 in der Metallindustrie gelungen, ein Kampf gegen die Frauendiskriminierung, aber auch gegen die Diskriminierung der zugewanderten Frauen, denn sie waren es, die hier massenhaft eingestellt waren; einmal ist das gelungen, und es ist weiteres gelungen, die Einbürgerung betreffend. Aber vieles ist nicht gelungen, und das hat uns hier zusammengebracht. Der Titel: Sicherheit für alle. Und das ist das Vordringlichste überhaupt.

Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als solch ein Titel gebraucht worden wäre, um vor der Studentenbewegung zu warnen, vor jedweder Initiative, die darauf gerichtet war, dem parlamentarischen System eine außerparlamentarische Opposition gegenüberzustellen: die Etablierung der Zivilgesellschaft im Westen der Republik.

Jetzt ist es die außer- und parlamentarische Opposition, in Gestalt einer AFD, Werte-Union und weiterer, und weiter nach rechts – die das Parlament als solches bedrohen, die das Gefüge Legislative, Judikative, Exekutive – die Verfassung – grundlegend bedrohen, und wir sind uns darüber klargeworden, dass wir dieses Gefüge kostbar finden, verteidigen wollen und deswegen sind wir zusammengekommen.

Kontinuitäten rechter Gewalt

Meine Vorredner*innen haben darüber gesprochen, dass wir mit dieser Veranstaltung auch den Raum betreten, den in wenigen Tagen am Jahrestag des Anschlags von Hanau die Überlebenden und Angehörigen betreten müssen. Unsere Gedanken sind bei ihnen, unser Denken und Gedenken hat mit ihnen zu tun. Wie es auch damit zu tun hat, dass eben sie in diese Katastrophe gestürzt wurden nur wenige Monate nach dem Anschlag in Halle auf die Synagogenbesucher*innen, die Menschen im Kiez-Döner und weitere, bei dem zwei Menschen ihr Leben verloren und der Versuch eines Massenmords an 66 Menschen – Gottlob – scheiterte. Ich denke auch an die Überlebenden und Angehörigen des OEZ-Anschlags in München, die darum zu kämpfen hatten, dass ihre Opfer als Opfer rassistischer Gewalt angesehen werden wie weiter zurückliegend die Opfer des Oktoberfestattentats. Ein Jahr nach jener einen Aufbruch verheißenden Erpulat-Premiere erfuhren wir vom sog. NSU, den Morden an zehn Menschen. Neun Menschen waren Eingewanderte.

Gözde Teper auf der Veranstaltung "Sicherheit für alle"; Gözde trägt ein T-Shirt mit den Namen und Gesichtern der Ermordeten aus Hanau.
i,Slam-Artist Gözde Teper bei der Veranstaltung "Sicherheit für alle!"

Als ich Beobachterin des NSU-Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags wurde, hörte ich hier zum ersten Mal den Ausdruck „Sicherheitsarchitektur“. Immer wieder war die Rede davon, die Sicherheitsarchitektur müsse verändert werden, so als müsste die Statik neu berechnet oder ein maroder Balken entfernt werden. Ein euphemistischer Ausdruck, würde ich sagen, angesichts der Verwobenheit von Polizei- und Verfassungschutzbehörden mit Akteuren aus dem NSU-Netzwerk, deren Mitschuld an den Morden nicht bezweifelt und mindestens durch Unterlassung gegeben ist. Mehmet Daimagüler geht nochmals darauf ein. In diesem Sinne hatten wir es nicht mit einer Sicherheitsorganisation für die Bürger*innen zu tun, sondern mit einem sich von dieser Funktion verabschiedenden selbstreferentiellen Gesamtsystem, ausgestattet mit Insignien von Macht und Gewalt, mit Waffen und Autorität und eigenem Netzwerk; Sicherheitsarchitektur, ein Ausdruck, als hätte es sich um ein Büro für demokratische Kund*innen gehandelt.

Behördlicher Rassismus

Tatsächlich haben wir eine Orientierung innerhalb der Behörden und Institutionen, die dem Bild dieses Marktplatzes der Diversität fernsteht. Gegenüber zahlreichen Mitgliedern der Vielen bewegen sich die Institutionen systemisch rassistisch. Dieser Tage berichteten die Zeitungen vom Fall einer 17-jährigen jungen Frau, die aus rassistischen Motiven in der Straßenbahn zusammengeschlagen wurde, währenddessen die Polizei einen Konflikt über das Masketragen zu Protokoll nimmt; die Tätergruppe schlägt, verletzt, äußert sich rassistisch, soll zunächst sozusagen politisch motivationslos davonkommen. Das ist nur einer unter zahlreichen Fällen und das spielt bei der Strafzumessung selbstverständlich eine Rolle. Wenn es denn dazu überhaupt kommt und nicht dem Opfer Schuld oder Mit-Schuld angelastet wird, etwas, das im NSU-Geschehen über ein Jahrzehnt hinweg der Fall war. Wenn denn nun aber ermittelt wurde – der Fall Chemnitz – sind wir dann mit einer Justiz befasst, deren Aufklärungsinteresse an der realen Dimension des Verbrechens gering ist; Heike Kleffner berichtet über die unendliche Verschleppung der Verfahren – die Leugnung rassistischer, rechtsextremer und antisemitischer Gesinnung führt geradewegs in die Einzeltäter-Theorie, in das Bagatellisieren, in der Resistenz, Netzwerke und Zusammenhänge erkennen zu wollen. Das aber ist ein zentrales Moment unserer aller Sicherheit, dass ein schonungsloses Interesse am IST-Zustand bestehen sollte. Nur das verschafft uns hinreichend Klarheit über das Ausmaß der Gefährdung, eine Ermittlungstätigkeit, die in verdienstvoller Weise von Journalist*innen, Antifa-Aktivist*innen und Antifa-Archiven geleistet wird, die sich nicht selten selbst mit polizeilichen Ermittlungen überzogen sehen.

So musste auch im Prozess gegen den Halle-Attentäter der Bezug zu den internationalen und digitalen Täter*innen-Communitys durch Gutachter*innen hergestellt werden, die die Nebenklage einführte, das Bundeskriminalamt hatte hier keine Kenntnisse. Und schämte sich nicht. Das kann so nicht bleiben, und die Ermittlungsbehörden müssen ihre Defizite hier aufarbeiten und die in und durch die Zivilgesellschaft erworbenen Kenntnisse nachfragen. Vielleicht kann man in diesem Zusammenhang auch die völlig verschwendete Kapazität auf die verfassungsschützerische Beobachtung der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes VVN, die ohnehin himmelschreiend ist, einstellen und sich wünschenswerter Weise der Verfolgung von Rechtsterrorist*innen widmen.

Straflosigkeit, Bagatellisierung und Indifferenz bezahlen Bürgerinnen und Bürger mit dem Leben, hier ist nicht nur ein Umdenken in der Polizei gefragt, sondern auch und gerade in der Justiz. Der Report Recht gegen Rechts versucht hier Transparenz herzustellen und das Projekt bittet um die Einsendung von relevanten Justizentscheidungen. Es muss also sowohl in der Polizei als auch in der Justiz etwas geschehen; unabhängige Meldestellen, an die Bürger*innen sich wenden können, wenn sie sich hier diskriminierend behandelt sehen. Das kann keineswegs die Justiz oder die Polizei in ihrer jetzigen Verfasstheit selbst sein wie es auch für die Beamt*innen eine Anlaufstelle z.B. der oder des Polizeibeauftragten geben muss.

Der Raum des Gedenkens

Ich sprach davon, dass wir jetzt diesen Raum vor dem Gedenken und in Gedenken an die Getöteten von Hanau betreten, einen Raum betreten im Gedenken an die Getöteten von Halle, des OEZ-Anschlags von München, des NSU, des Oktoberfestattentats – ich kann lange, allzu lange hier weiterreden – und wir betreten einen Raum der Getöteten, um die es in dem Verfahren gegen Herrn Josef S. als Mitglied der SS-Wachmannschaft des Konzentrationslagers Sachsenhausen geht; ein Prozess, der zurzeit vor dem Landgericht Neuruppin in Brandenburg stattfindet – in diesen Verfahren kann es leider kaum mehr um Gerechtigkeit für die Überlebenden und ihre Angehörigen gehen, kein Strafmaß kennen wir hier, das irgendwie nur angemessen sein könnte. Was aber geschehen kann, ist die Verurteilung eines mutmaßlich Beteiligten am Massenmord als einer Handlung der Selbstvergewisserung der Gesellschaft, mit wem sie und unter welchen Umständen sie leben will. Warum konnten Jahrzehnte der Toleranz dieser Verbrechen an der Menschlichkeit, der Verbrechen der Shoa vergehen? Ausdrücklich ist hier dem nicht aufgebenden hartnäckigen Nebenklageanwalt Thomas Walther und anderen zu danken.

Zeugnis der Betroffenen

Ich komme zurück zum Halle-Verfahren. „Du darfst leben“, formulierte ein Überlebender des Anschlags, er war ein Kunde im Kiez-Döner, an die Adresse des Angeklagten, „aber nicht mehr mit uns.“ Das Halle-Verfahren möchte ich auch noch in anderer Hinsicht zitieren: Es geht in diesen Prozessen nicht allein um die Verurteilung des Täters/der Täterin, der Täter*innen, das ist wichtig, aber es geht ganz entscheidend auch um das Gehör, um die Anteilnahme, die wir – und die Justiz muss diesen Raum gewährleisten, nicht gewähren, gewährleisten – Betroffenen entgegenbringen und deshalb muss ihre Zeugenschaft – ich wiederhole das: ihr Zeugnis und ihre Zeugenschaft – Mollie Sharfman, ist heute hier, mit uns, vielen Dank dafür – einen elementaren Platz in diesen Verfahren einnehmen können. Ich zitiere sinngemäß Ibrahim Arslan, Überlebender des Anschlags von Mölln und Aktivist der antirassistischen Bewegung: Wir sind nicht die Statist*innen unserer eigenen Angelegenheiten.

Mollie Sharfman bei der Veranstaltung "Sicherheit für alle!"
Mollie Sharfman bei der Veranstaltung "Sicherheit für alle!"

Zeugnis legen – Zeugenschaft. Das sind die elementaren Voraussetzungen, an denen zivilgesellschaftliche Akteur*innen seit Jahren, Jahrzehnten arbeiteten und auf dieser Arbeit gründet sich heute die Existenz von Anti-Diskriminierungsstellen, Beauftragten gegen Antisemitismus und anderen wie auch NSU Watch und des Verbands der Opfer rechter, rechtsextremer, antisemitischer und rassistischer Gewalt. Ihre Arbeit gehört unterstützt und auf ein solides budgetiertes Fundament gestellt, damit sie weitermachen können. „Das Urteil“, sagt İsmet Tekin und ich zitiere nach dem Buch Hab keine Angst erzähl alles. Der Anschlag von Halle und die Stimmen der Überlebenden, (1) „das Urteil, ich werde sehen, ja oder nein. Für die Gesellschaft ist die Solidarität etwas, das sie stark macht. Die Leute von der mobilen Opferberatung, die normalen Menschen, die rings um uns waren, sie sind immer noch bei uns. Die sind die besten, kann ich sagen. Wir sind zusammen in Solidarität“.

Was die Institutionalisierung von Beauftragten betrifft, so ergibt sich ein Problem. Zum Beispiel hat der Antisemitismusbeauftragte der Stadt Berlin einen Kanon von zu überprüfenden Straßennamen vorgelegt, in dem die Bezeichnung und also Ehrung eines Platzes als Jürgen-Fuchs-Platz als bedenklich bzw. zu kontextualisieren vorgestellt wird. Dieser Vorgang wird mit einem Titel begründet, den Jürgen Fuchs für sein Buch Auschwitz der Seelen wählte, eine Enthüllung, Anklage, Recherche über die Stasi. Ich habe es gelesen und sehr wichtig gefunden. Ein Dissident, ein Bürgerrechtler, ein Mensch, der wie kaum ein anderer für Menschenrechte einstand, mit seinem Leben, der mich bat mit Jugendlichen über Antisemitismus zu sprechen, als es noch keine Beauftragten gab, gerät auf eine Art Index. Gleichgültig, wie ich über den Buchtitel denke, diese Beauftragten sind eigentlich keiner gewählten Instanz gegenüber rechenschaftspflichtig und agieren hier und da; mal innerhalb von Landesgrenzen mal nicht. Ist das die Lösung? Noch mehr Beauftragte? Gegen Rassismus, gegen Islamophobie, gegen Gadjé-Rassismus oder – wenn Sie diesen Ausdruck noch nicht kennen – gegen Antiziganismus? Gegen Diskriminierung von LGBTIQ-Gruppen? Ist das die zentrale Richtung, in die wir gehen wollen?

Der Rat der Vielen

Wenn wir zurückkommen wollen zur Idee des Marktplatzes der Vielen, dann ginge es nicht um eine fortdauernde Abwehrbewegung, sondern um die Möglichkeit, dass die partikularen Interessen sichtbar geltend gemacht werden und das Fundament politischen Handelns bilden. Dann benötigen wir einen RAT DER VIELEN, dann benötigen wir eine Beauftragung für die Angelegenheiten der Demokratie, die als gewählte Funktion gegenüber dem Parlament rechenschaftspflichtig gemacht wird. Hier müsste die Aufgabe angesiedelt sein, die Vertreter*innen der Vielen auf Augenhöhe zusammenzurufen, einen Rat zu bilden, in dem ihre Angelegenheiten politisch Gestalt annehmen können.

Über der Pandemie sind die Interessen derer, die noch immer in Griechenland festsitzen oder syrische Menschen, die in der Türkei als Illegale strandeten, sie sind nicht – ich sage das bürokratisch, weil es bürokratisch ist – sie sind nicht „befasst“ worden. Das ist dringend und muss wieder aufgenommen werden, und so werden auch sie eine Stimme in diesem Rat der Vielen bekommen müssen. Sie, die noch nicht da sind. Ich denke also an eine Verbindung von Partikularinteressen und einem Gemeinsinn- oder Universalismusgedanken, was also ein WIR ausmacht und gerade im Zusammenhang der Pandemie erkennen wir, dass es mehr denn je darum geht, zu erkennen, dass Individualismus und Freiheitsrechte wunderschön sind, aber dass sie eben da an ihre Grenzen kommen müssen, wenn sie die Existenz eines Anderen bedrohen und riskieren. Ich werde jetzt nicht über die Bedrohlichkeit der verschiedenen Verschwörungsmythen sprechen.

Die Gesetze reichen durchaus aus, wie Kati Lang sagt, es wäre schön, wenn sie angewendet werden.

Über wessen Sicherheit sprechen wir?

Ich möchte etwas zu der Frage sagen, wer eigentlich von diesem Sicherheitsproblem betroffen ist. Sicherheit für alle unterstellt, dass wir alle von Nicht-Sicherheit oder Gewalt betroffen seien. Immer wieder haben Betroffene von rassistischer und antisemitischer Gewalt darauf aufmerksam gemacht, dass hier ein Gleichsetzen – zum Beispiel der weißen mit nicht-weißen Menschen – unangebracht ist – sicher auch der jüdischen Menschen mit nichtjüdischen Menschen, gleichwohl war es möglich und besonders wichtig, dass sich diese Betroffenen, ich spreche über die Betroffenen des Halle-Attentats, mit den Menschen zusammengeschlossen haben, die aus rassistischen oder islamophoben Gründen angegriffen waren – manche werden sicher in den nächsten Tagen auch nach Hanau fahren – ja und es ist unangebracht, den Wohnungslosen – sie sind besonders häufig Opfer von Übergriffen – mit dem Wohnungshabenden gleichzusetzen. Ich kann diese Argumentation nachvollziehen, alle diese sind besonders vulnerable Gruppen und dennoch ist auch etwas Richtiges daran zu sagen, wir seien alle betroffen.

Podiumsdiskussion bei der Veranstaltung "Sicherheit für alle!", zu sehen sind Ebru Tasdemir, Awet Tesfaiesus, Esther Dischereit, Liane Bednarz und Stephan J. Kramer.
Podiumsdiskussion mit Ebru Taşdemir, Awet Tesfaiesus, Esther Dischereit, Liane Bednarz und Stephan J. Kramer (v.r.n.l.)

Spätestens seit dem Mord an Walter Lübcke, einem Politiker des konservativen politischen Establishments, ist zu erkennen, dass der Rechtsterrorismus zahllose Gruppen in seinem Feindbild einschließt: die politischen Gegner*innen, Politiker*innen, Polizist*innen – in diesem Sinne stellen sich mir Fragen nach ausbleibender Waffenkontrolle und dem Mord an den zwei Polizisten in Kusel – ganz allgemein Menschen: wie die Heidelberger Studierende. Die Verbreitung von Angst und Schrecken gehört ja im Allgemeinen auf die Agenda, Destabilisierung des Systems mit allen Mitteln, ein Überfall auf eine Wandergruppe und anderes. Gravierend ist in diesem Zusammenhang die völlig unaufgeklärte Interdependenz der enorm hohen Zahl an Frauenmorden in Deutschland mit Männlichkeitsphantasien und rechtem oder rechtsterroristischem Weltbild. Wenn wir uns diese Zusammenhänge bewusst machen, können wir erkennen, dass die Forderung nach SICHERHEIT FÜR ALLE sich tatsächlich an alle richtet.

Eine Gefahr für uns alle

Wir vergessen nicht: Was geschah mit Oury Jalloh! Wir können nicht mit einem Polizeiapparat leben wollen, in dem das Anzünden eines inhaftierten Menschen stattfindet und erfolgreich vertuscht wird. Einen solchen Apparat können wir nicht wollen, nicht zum Schutz und für gar nichts. „ACAB“ darf man nicht sagen, nicht wahr? Dann hören Sie auf mit der Gewalt und Kriminalisierung von Shisha-Bars und migrantischen Jugendlichen. Ich habe jahrelang gewerkschaftliche Seminare mit türkischstämmigen Arbeitnehmer*innen durchgeführt: sie waren Postzusteller*innen, Busfahrer*innen, Straßenbahnfahrer*innen, Müllarbeiter*innen und andere. Nicht einer war darunter, der nicht von Übergriffen auf seine Kinder berichten konnte. Zurück zu Erpulat zum Theaterstück „Verrücktes Blut“, zu diesem Ort, zu diesem Theater. Danach kam Thilo Sarrazin. Auch er ist Teil einer Bewegung geworden, der Rechten.

Ich schließe mit einem Satz von Sabrina Slipchenko, sie überlebte das Halle-Attentat, und sie sagt vor Gericht: „Das möchte ich sagen. Ich bin nicht nur Jüdin, ich bin auch eine Frau, ich bin eine Linke, ich bin gay und so, ich bin eine Migrantin. Ich komme also aus einer armen Familie, das gehört auch zu mir. Ich wäre für den Angeklagten ein lohnenswertes Ziel gewesen, wenn er das hätte realisieren können. Rechte Gewalt ist gefährlich für jedermann. Jeder hier im Gerichtssaal kann theoretisch ein Opfer rechter Gewalt sein. Jeder von uns kann Kevin, Jana, İsmet oder sonst wer sein. Man muss sich nicht in einer Synagoge befunden haben. Es ist eine Gefahr für uns alle“. (2)

Dank an Sabrina Slipchenko und dass sie uns dieses Zeugnis überließ. In diesem Sinne darf ich schließen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

(1/2) Esther Dischereit (Hg), Hab keine Angst erzähl alles. Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden. Herder, 272 S., 2021