Du musst in einem Februar frieren

Das Gedicht von der Künstlerin Tanasgol Sabbagh erinnert uns daran, dass auch fünf Jahre nach Hanau die Erinnerung unausweichlich bleibt: In jedem Blick, in jedem Gespräch, in den Strukturen, die uns umgeben – gegen das Vergessen, gegen das Verdrängen.

Tanasgol Sabbagh
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Tanasgol Sabbagh ist Mitbegründerin des Künstler*innenkollektivs parallelgesellschaft

Du sprichst es er-rinnern aus
als würdest du entrinnen meinen, 
immer wieder. du sagst: er-rinnern
und schon fließt es aus dem Kopf und durch die Finger –

Es stimmt: Fünf Jahre sind vergangen

Was lag in der Nacht
Was nahm sich die Nacht heraus

Es stimmt: Du musst in einem Februar frieren. 

Lange sagten sie Integration, wenn sie an den Tüchern zerrten und an der Sprache.
Lange sagten sie Multi-Kulti, wenn wir für sie singen durften und tanzen.
Lange sagten sie allen Menschen steht alles offen — wenn sie denn nur wollen!

Doch wir kennen die Grenzen, die sich durch die Viertel ziehen,
durch Schul- und Arbeitswege,
durch die Architektur der Wohnsiedlungen
Wir kennen die Statistik
vielleicht nicht ihre genaue Zahl, aber wir kennen ihre Wahrheit.

Wir zählen die Städte seit den 90ern,
in den neuen Bundesländern und den alten
zählen Einzelfall nach Einzelfall nach Einzelfall

Du sprichst Erinnern aus.
Du sagst: er-rinnern 
und schon fließt es aus dem — 

du kannst es kaum fassen:

Die Nacht die Schüsse die Namen
Die Nacht die Schüsse die Namen
Die Nacht die Schüsse die Namen
Die Nacht

Wir sagen das Problem liegt im System
Wir buchstabieren i n s t i t u t i o n e l l
und warten geduldig bis der Antrag bearbeitet wird.

Uns überraschen keine Schlagzeilen, 
keine Abschiebetickets in unseren Briefkästen, keine Talk Shows. 
Wir kennen sie alle.
Wir wissen, wie sie konzipiert sind,
worauf sie abzielen
wir kennen den Preis der Einschaltquoten
und wir wissen, wer ihn bezahlt.

Wir kleben an unseren Handys und sprechen von einer Nacht und neun Namen. 

Wir kennen auch die anderen
die davor 
und die danach
wir vergessen nicht. 

Wir erkennen uns an dem Maß, das voll ist
an dem Gras, das nicht mehr wachsen wird
über diese Vergangenheit,
die uns noch immer gegenwärtig in die Augen starrt in der Bahn
im Café oder im Park
dort, wo wir durch Haut und Haar auffallen,
erkennen wir sie an ihrem Atem
wir müssen nicht erst nach Schnürsenkeln suchen

Wir kennen alle Namen: 
Die, die sie uns geben
so gut
wie die, die sie uns nehmen. 

Neun Namen,
wir stellen uns hinter sie und ihre Familien, stellen ihre ungelösten Fragen.

Hier: Wo die Geschichte schon zu vielen Nächten einen Namen gab
Hier: kein Er-rinnern, kein Entrinnen mehr.

W i r  e r i n n e r n.

 


Dieser Text ist eine aktualisierte Fassung eines Textes, der 2021 für eine Video-Performance entstanden ist.