Said Etris Hashemi, der den Terroranschlag in Hanau schwerverletzt überlebte und dessen Bruder Nesar bei dem Anschlag ermordet wurde, ist zu einer unüberhörbaren Stimme im Kampf gegen Rassismus geworden. Heute blickt er zurück auf die letzten fünf Jahre und auf das, was ihn bestärkt, weiter laut zu sein.

Fünf Jahre. Eine ganz schön lange Zeit. Es ist sehr viel passiert in diesen fünf Jahren und dennoch holt es mich manchmal ein, als wäre es gerade erst gewesen.
Fünf Jahre ohne Nesar. Viele haben ihn im letzten Jahr ein wenig kennengelernt in meinem Buch: „Der Tag, an dem ich sterben sollte. Wie der Terror von Hanau mein Leben für immer verändert hat“.
Das hätte ich mir früher nie vorstellen können, dass ich ein Buch über mein Leben schreibe. Aber ich glaube, es war nötig. Denn die Narben, die ich trage, erinnern mich jeden Tag an den rassistischen Terroranschlag von Hanau, den ich schwerverletzt überlebt habe. Aber es sind nicht nur meine Narben. Dieser Anschlag hat eine Narbe direkt in unserer Gesellschaft hinterlassen. Und Narben bleiben, erinnern und mahnen uns.
Hoffnung durch Erinnerung
Im Herbst war ich auf Lesereise, da bin ich vielen beeindruckenden und mutigen Menschen begegnet. Es war ein erstaunlich junges Publikum. Oft waren auch Schulklassen da. Ich hatte Gespräche mit Lehrer*innen, die unglaublich wichtige Arbeit leisten. Die Fragen von den Schüler*innen und anderen jungen Menschen aus dem Publikum haben mich teilweise zum Nachdenken gebracht und mir neue Perspektiven eröffnet. Es waren so gute und motivierende Gespräche darüber, dass es richtig war, dieses Buch zu schreiben und dass es sich lohnt, all diese Arbeit zu machen. Ich habe den Eindruck, dass ich wirklich etwas bewirke. Dass wir einen Stein ins Rollen gebracht haben, der da ist, der weiter rollt, auch wenn die derzeitige politische Situation nicht gerade ermutigend ist. Aber wenn mein Buch und auch die Bücher vieler anderer in Schulen gelesen werden, wenn meine Geschichte, die Geschichte des rassistischen Terroranschlags am 19. Februar 2020 in Hanau, wenn die Geschichten derer, die wir da verloren haben, erinnert werden, dann habe ich Hoffnung.
Wenn meine Geschichte, die Geschichte des rassistischen Terroranschlags am 19. Februar 2020 in Hanau, wenn die Geschichten derer, die wir da verloren haben, erinnert werden, dann habe ich Hoffnung.
Was mich auch immer wieder bestärkt: Nach Hanau haben wir mit #saytheirnames eine neue Erinnerungskultur in diesem Land geschaffen. Medial und überall, wo ich hinkomme, sind die Namen und Gesichter der neun zu sehen. Natürlich ist es auch traurig. Es sind fünf Jahre ohne Nesar, Hamza, Ferhat, Vili, Mercedes, Kaloyan, Fatih, Sedat und Gökhan. Aber überall erinnern sich Menschen an sie. Ihre Namen sind präsent. Nicht der Name des Täters. Und das ist gut so.
Ich habe in den letzten Jahren so viele bestärkende und gute Begegnungen gehabt. Nicht zuletzt die Kontakte in die Gewerkschaften, sei es bei Veranstaltungen für Auszubildende oder beim Gewerkschaftstag. Immer hatte ich den Eindruck, dass ich etwas geben konnte, aber ich habe auch immer etwas mitgenommen. Denn die Solidarität, die sich auch in solchen Momenten zeigt, trägt.
Lippenbekenntnisse reichen nicht
Ich hatte auch viele Begegnungen mit Verantwortlichen in der Politik. Ob beim Runden Tisch mit dem Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier oder mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz. Ich glaube, jedes Mal war es wichtig, da zu sein, meine Stimme zu erheben und auf Missstände aufmerksam zu machen. Ich hatte das Gefühl, etwas tun zu müssen und zu verändern, weil es Menschen angesprochen hat und weil ich auch stellvertretend für andere spreche. Ob es letztendlich etwas bringt, weiß ich nicht.
In der Initiative 19. Februar Hanau kämpfen wir seit fast fünf Jahren für Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen.
Erinnerung ohne Aufklärung ist nicht aufrichtig. Erinnerung ohne Aufklärung schafft keine Konsequenzen. Und ohne Konsequenzen gibt es keine Gerechtigkeit.
Ein eher frustrierendes Kapitel der letzten fünf Jahre war der parlamentarische Untersuchungsausschuss im Hessischen Landtag, den wir erstritten haben: Dort wurden Fehler und Versäumnisse eingestanden, aber es gab keine politischen Konsequenzen.
Es reicht nicht, wenn die Politik nur mit einem Lippenbekenntnis auf unserer Seite ist. Es braucht konsequentes Handeln.
Aus dem Solidaritätsnetzwerk Betroffener rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt heraus, haben wir im November 2024 einen Fachtag in Berlin zum Thema „Opferschutz und Opferhilfe aus der Perspektive von Betroffenen“ veranstaltet. Es waren viel mehr Menschen aus Politik, Behörden und aus dem Betroffenennetzwerk da, als wir uns erhofft hatten. Die Verantwortlichen haben die Chance genutzt und zugehört und uns teils auch zugesichert, dass sie an den Problemen arbeiten und an weiterem Austausch interessiert sind. Das war eine gute Erfahrung. Hoffentlich erwächst daraus mehr.
All das ist quasi Lobbyismus für Antirassismus.
Solidarität – Jetzt erst recht
Letztes Jahr waren Millionen auf der Straße gegen die AfD nach den Enthüllungen von correctiv über das Potsdamer Treffen. Ich habe auf verschiedenen Demos gesprochen. Diese Erfahrung habe ich in den letzten fünf Jahren oft gemacht. In meinem Buch habe ich z.B. zu meiner Rede auf der Unteilbar-Demo in Berlin 2021 geschrieben:
„Die Rede […] war für mich unglaublich motivierend. Hoffnung stiftend. All diese Menschen zu sehen, die mir zuhören, die Wandel erhoffen, die dafür zusammenstehen – mir wurde in diesem Moment meine Verantwortung als Person, die diesen Kampf auch öffentlich führt, erst so richtig bewusst. Das hier war größer als ich, größer als Hanau. Hier ging es um gesellschaftlichen Wandel – und ich konnte Teil davon sein.“ (S. 186f.)
Ich bin überzeugt, dass Solidarität das ist, was uns seit fünf Jahren stark macht. Ob auf Demos, im Betroffenen-Netzwerk, untereinander oder mit den vielen Menschen, die an unserer Seite stehen.
In den letzten fünf Jahren ist aber auch die AfD und der Populismus weiter erstarkt. Wir erleben derzeit einen fürchterlich rassistischen Wahlkampf. Der mediale Diskurs darüber, die Worte, die benutzt werden, führen dazu, dass sich diese rassistischen Vorurteile verfestigen.
Rassismus und rassistische Gewalt entstehen nicht im luftleeren Raum. Davor stehen Buchstaben, Begriffe, Diskurse, Framings. Und je nachdem, wie weit sie fortgeschritten sind und verbreitet werden, kann das tödlich enden.
Rassismus und rassistische Gewalt entstehen nicht im luftleeren Raum. Davor stehen Buchstaben, Begriffe, Diskurse, Framings. Und je nachdem, wie weit sie fortgeschritten sind und verbreitet werden, kann das tödlich enden.
Wir leben in Deutschland seit über einem halben Jahrhundert in einer Migrationsgesellschaft. Aber gehören wir dazu? Grundgesetzwidrige Debatten über die Aberkennung der Staatsbürgerschaft bei Straffälligkeit sind rassistisch und machen nichts in diesem Land besser.
Im Sommer habe ich auf dem Z2X-Festival der Zeit gesprochen. Der Schluss meiner Rede war:
„Im Januar 2024 stand ich auf vielen Bühnen: “Deutschland, vereint gegen rechts”.
August 2024: Deutschland diskutiert über Terror und Migration. Ich, Said Etris Hashemi, Afghane, Muslim, Überlebender des Terroranschlags von Hanau, stehe wieder unter Generalverdacht.
Hört das jemals auf?“
Es lohnt sich, dass wir gemeinsam dafür kämpfen, dass das aufhört und sich die Diskurse ändern. Dabei ist es wichtig, die Kämpfe zu verbinden.
Wir halten nichts von populistischer Politik und wir lassen uns dadurch nicht spalten.
Wir halten zusammen. Von Hanau über München nach Halle, von Dortmund nach Dessau, von Rostock-Lichtenhagen nach Kassel und Magdeburg und an vielen Orten mehr.
#saytheirnames
Erinnern heißt verändern.
Der Beitrag ist Teil des Dossiers "Fünf Jahre Gegenwart"