Die Migration verläuft in beide Richtungen

Interview

Wo fühlen sich Menschen zugehörig, die familiäre Bezüge in mehr als nur ein Land haben – und in beiden zu Fremden gemacht werden? Mit dieser Frage beschäftigt sich Nadire Biskins Debütroman "Ein Spiegel für mein Gegenüber". Im Zwischenraum-Interview spricht sie über die Bedeutung von Deutschland und der Türkei für ihre Romanfiguren und über ihre Erfahrungen als Lehrerin in einer Willkommensklasse in Berlin.

Portrait von Nadire Biskin

Liebe Nadire, dein Debütroman Ein Spiegel für mein Gegenüber ist vor kurzem, Anfang 2022, erschienen. Wann reifte in dir die Idee zu deinem Debüt, und stand das Thema schon fest?

Nadire Biskin: Vor ungefähr 5-6 Jahren habe ich mich entschieden einen Roman zu schreiben. Zu dem Zeitpunkt haben mich Fragen nach (sozialer) Mutterschaft und Solidarität vor dem Hintergrund von Rassismus, Klassismus, Bildungsaufstieg und Migration umgetrieben. Gleichzeitig kamen so viele syrische Geflüchtete in der Türkei an. Daher stand ziemlich schnell fest, worüber ich schreiben würde, die Konkretisierung der Romanidee hat noch mal ein wenig mehr Zeit in Anspruch genommen.

Der Roman ist unterteilt in zwei Teile, die Handlung des Romans beginnt im ersten Teil mit dem Aufenthalt der Protagonistin Huzur in der türkischen Kleinstadt Bucak und knüpft im zweiten Teil mit der Rückkehr nach Deutschland an ihr Leben in Berlin an. Welche Intention hast du bei der Unterteilung der Handlung verfolgt?

Ich wollte aufzeigen, dass eine Verortung nicht einfach mit geografischen Punkten getan ist. Huzur denkt in der Türkei über Deutschland nach, über ihr Leben dort. Und in Deutschlands Hauptstadt wiederum ist ein Teil von ihr in der Türkei. Die Migration verläuft ja in beide Richtungen, und es gibt Menschen, in beiden Ländern, die an das jeweils andere Land denken. Die Türkei hat Spuren von Deutschland und Deutschland Spuren von der Türkei. Die Städte sind aber auch Gegensätze, die Kleinstadt vs. die Großstadt, Klima und Assoziationen sind anders. Dennoch sind sie in Strukturen fast schon Doppelgänger, es gibt die Ränder der Stadt, den Zement, die Arbeit, Geflüchtete und Armut.

Welche Bedeutung bzw. Stellenwert haben die Länder Türkei und Deutschland für Huzur?

Huzur erfährt in Deutschland wie viele andere Menschen Rassismus, dabei bleibt es aber nicht. Sie ist sensibilisiert dafür, vermutlich auch geprägt durch ihre Rolle der fürsorglichen Tochter, Lehramtsreferendarin und als intellektuelle Person. Sie kann also nicht mehr wie manch anderer die Türkei, das Herkunftsland ihrer Eltern, als einen idyllischen Urlaubsort betrachten. Die sozialen Strukturen sind ihr bewusst, der Transfer gelingt ihr und sie wird dort als almancı, also Deutschländerin, geothered, dennoch fliegt sie dahin. Huzur hat ein ambivalentes Verhältnis zu beiden Ländern. Ein ungewolltes Verhältnis, könnte man auch sagen, zwangsverbunden sozusagen.

Auch in Berlin zieht sich eine imaginäre Grenze durch Huzurs Leben: ihr Freund Raphael aus Dahlem, sie aus Wedding, beide mit Migrationshintergrund, wobei es selbst da einen Unterschied gibt, denn seine Eltern stammen aus der französischen Schweiz und ihre aus der Türkei, seine Zweisprachigkeit wird ihm nie vorgehalten, während Huzur ewig in einer Bringschuld bleibt. Es gilt also noch viele – teilweise latente – Hürden zu überwinden?

Cover von "Ein Spiegel für mein Gegenüber" von Nadire Biskin
Buch-Cover von "Ein Spiegel für mein Gegenüber"

Es ist eine herausfordernde Beziehung zwischen den beiden, die Asymmetrie was race, gender und class anbelangt, ist zugunsten von Raphael. Er hat zwar einen Migrationshintergrund wie Huzur, aber ist nicht rassifiziert wie sie. Es gibt vermutlich noch viel mehr Hürden in der Realität. Dass diese unsichtbaren Hürden in einem Roman sichtbar werden, ist vielleicht ein Zeichen dafür, dass es vorwärts geht. Leider ist es auch ein sehr mühsamer, langer Weg für ein Menschenleben. Ich persönlich bin da ungeduldiger als Huzur, was die doppelten Standards anbelangt.

In einem Punkt scheinen beide Länder, die Türkei und Deutschland, eine Gemeinsamkeit zu haben: die Not geflüchteter Menschen. Huzur erfährt während ihres Aufenthalts in der Türkei von den Problemen geflüchteter Familien und wird auch gleich am Tag ihrer Ankunft in Berlin Augenzeugin der schlechten Behandlung eines geflüchteten Mädchens namens Hiba, um die sie sich dann auch kümmert. Was verbindet Huzur und Hiba, deren Name übersetzt Gottesgeschenk bedeutet, miteinander? Was sieht Huzur in Hiba?

Es ist natürlich kein Zufall, dass sie sich begegnen. Sie haben unterschiedliche Migrationshintergründe und Lebensumstände, doch gibt es Erfahrungen, die Huzur gemacht hat und Hiba in Deutschland machen wird und auch in der Türkei erlebt hat. Letzteres kann Huzur nur erahnen. Sie ist ja nicht in der Türkei von Rassismus betroffen. Huzur Özyabancı, deren Name übrigens übersetzt Harmonie Urfremde bedeutet, sehnt sich nach Harmonie. Sie hat Angst, dass sie es mit Hiba nicht stemmen kann, gleichzeitig weiß sie, Kinder sind ein Gottesgeschenk. Es ist ein weiteres Dilemma in ihrem Leben. Ich wollte keine Figuren, die nur, weil sie diskriminiert werden, total empathisch und offen, solidarisch mit allen Marginalisierten auf der Welt sind. Das wäre vermutlich auch ein Stereotyp. Es stellt sich anhand der Figuren im Roman die Frage, ob begrenzte Ressourcen, negative Erfahrungen uns empathischer machen oder die Nerven so sehr rauben, dass „wir“ keine Nerven, keinen Mut für die Begegnung mit anderen haben. Somit ist jede Figur vermutlich irgendwo auch eine Herausforderung für die Empathie der Leser*innen.

Im letzten Jahr wurde das 60-jährige Jubiläum des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland gefeiert. Ähnliche Situationen, die Huzur und ihren Eltern in deinem Roman widerfahren sind, kommen sicherlich vielen Menschen der zweiten und dritten Generation bekannt vor. Was macht das mit Kindern, die immer wieder Momente erleben, in denen ihre Eltern Alltagsrassismus ausgesetzt sind?

Das ist eine große und tiefe Frage. Jegliche Antworten darauf werden verallgemeinert sein. Ich versuche es trotzdem: Eltern sind für Kinder wichtige Bezugspersonen, wenn sie sehen, dass ihnen Schmerz zugefügt wird und dann noch wegen Eigenschaften, die reine Willkür sind, verletzen diese Erfahrungen die Eltern und ihre Kinder. Sie können die Kinder wütend werden lassen und das zurecht. Sie können die Kinder beängstigen, und Scham spielt sicherlich auch eine Rolle für Eltern und Kinder. Es stellt sich die Frage auch bei Huzur, ob sie das alles nochmal durchmachen möchte mit Hiba. Sie hat es mit ihrer Mutter erlebt, sie spürt die Vorbehalte selbst am eigenen Körper. Ich denke immer wieder, was viele rassifizierte und migrantische Menschen aus der Arbeiterklasse erlebten und teilweise immer noch erleben, ist unvergesslich. Vermutlich vergisst man das noch nicht mal, wenn man Alzheimer hat und seinen eigenen Namen vergisst.

Nadire Biskin wurde 1987 in Berlin-Wedding geboren. Sie hat Philosophie, Ethik und Spanisch studiert und mehrere Jahre zu Sprachbildung und Mehrsprachigkeit geforscht, heute arbeitet sie als Lehrerin. Ihre Prosatexte sind in zahlreichen Magazinen erschienen. ›Ein Spiegel für mein Gegenüber‹ (erschienen 2022 im dtv Verlag) ist ihr erster Roman.

Hier finden Sie eine Leseprobe.

Du bist Klassenlehrerin einer Willkommensklasse in Berlin. Wie würdest du allgemein die Diversität in deutschen Lehrerzimmern beschreiben?

Sicherlich gibt es da auch einen Wandel. Berlin hat zumal einen großen Lehrer*innenmangel. Schon zu Zeiten meines Studiums wurden angehende of color Studierende mit Migrationshintergrund für den Beruf beworben oder neutraler formuliert, es gab Informationsveranstaltungen zu dem Beruf. Diversität kann aber nicht lediglich quantitativ erfasst werden. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, einige stellen sich das wie auf den Postern von United Colors of Benetton vor. Diversität kann man nicht mit dem bloßen Auge erfassen. Diversität heißt Barrieren abzubauen. Zumindest, wenn es nicht einfach ein Trend sein soll, sondern langfristig was bringen soll.

Und wie wirkt sich die wachsende Zahl von Lehrenden mit nicht-deutscher Herkunft (ndH) auf den Lernerfolg der Schüler*innen mit ndH aus?

Lehrer*innen sind ja nicht nur nicht-deutscher oder deutscher Herkunft, sondern sie haben Persönlichkeiten, teilweise unterschiedliche Sozialisationen – neben dem Aspekt von ndH. Auch Lehrer*innen nicht-deutscher Herkunft können den Rassismus verinnerlicht haben und reproduzieren, und somit negativen Einfluss nehmen auf den Lernerfolg der Schüler*innen. Sie können aber auch als role model dienen. Schüler*innen sehen endlich, dass Menschen nicht deutscher Herkunft nicht nur in Schulen putzen, sondern auch unterrichten können.

Wissen deine Schüler*innen, dass du ein Buch veröffentlicht hast und wie waren die Reaktionen?

Ich habe ihnen das jetzt nicht erzählt, daher vermutlich nicht. Im Lehrendenzimmer wissen es auch nur wenige. Diejenigen, die es wissen, sind sehr offen und haben positiv darauf reagiert. Sie lesen den Roman auch. Das fühlt sich aber auch irgendwie komisch an (lacht).

Mit welcher literarischen Persönlichkeit – historisch oder aktuell – würdest du gerne einen Kaffee trinken und warum?

Ich bin viel zu sensibel, um Kaffee zu trinken (lacht). Den metaphorischen Kaffee, Ayran oder Ingwertee, würde ich mit so vielen trinken wollen, angefangen von Zadie Smith, über Daniela Dröscher bis hin zu Sophokles. Ich habe ihre Bücher gelesen, sie haben Spuren hinterlassen, mich nachdenklich gemacht. Das ist vermutlich eine gute Basis für ein gutes Gespräch.