Black Lives Matter und die Polizei in Großbritannien

Analyse

An den Sommer 2020 wird man sich vor allem wegen der größten antirassistischen Demonstrationen der britischen Geschichte erinnern. In Großstädten wie Manchester, London, Birmingham und Bristol gingen Zehntausende auf die Straße, aber auch bei Mahnwachen und Solidaritätskundgebungen in kleineren Städten und Dörfern konnte man den Slogan „Black Lives Matter“ entdecken. Dr. Adam Elliott-Cooper, Soziologe an der Greenwich University in London, analysiert die Geschichte und Gegenwart von institutionellem Rassismus und der Black-Lives-Matter-Bewegung in Großbritannien.

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Black Lives Matter Protest in London, 2016

Rassismus, das British Empire und das Erbe des Kolonialismus

Erinnerten die Demonstrationen gegen rassistische Polizeigewalt noch an die Kampagnen vergangener Zeiten, so richtet sich der Protest nun auch gegen die imperialistischen Denkmäler Großbritanniens. Diese Aktionen haben die Nation gezwungen, sich eingehender mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern die Ungerechtigkeiten des 21. Jahrhunderts aus der eigenen rassistischen Vergangenheit erwachsen. Im Nachrichtenmagazin Newsnight, dem Flaggschiff der BBC, sagte der Moderator etwas, was inzwischen in ganz Westeuropa Gesprächsstoff ist: „Aber Sie können doch Großbritannien und Amerika nicht auf eine Stufe stellen … unsere Polizei ist nicht bewaffnet. Und das Erbe der Sklaverei ist nicht vergleichbar.“  In vielen europäischen Ländern gilt der Rassismus gegen Schwarze Menschen als grausamer Sündenfall Amerikas, der Europa erst mit der Einwanderung vieler Menschen aus Afrika, Asien und der Karibik nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte. Aber es war die koloniale Expansion Europas, die Afrika, den amerikanischen Doppelkontinent und Südasien mit Sklaverei, Völkermord und Ausbeutung überzog. Jahrhundertelang war der Rassismus das Fundament, auf dem Macht und Herrschaft westeuropäischer Staaten wie Großbritannien beruhten. Durch die geografische Entfernung zu seinen Kolonien gelang es den europäischen Staaten, das eigene Selbstbild ideologisch von rassistischem Gedankengut abzuspalten. Großbritannien, einst die größte Sklavenhändlernation überhaupt, die sich des gewaltigsten und wirtschaftlich erfolgreichsten Imperiums der Weltgeschichte rühmt, bildet da keine Ausnahme.

Der Rassismus war ein maßgebliches Instrument, um die große Zahl der von Großbritannien kolonisierten Menschen zu kontrollieren und die damit verbundene Gewalt und Ausbeutung zu rechtfertigen. Von der Plantagensklaverei in der Karibik über die Unterwerfung der Aufständischen in Indien bis hin zum gewaltsamen Ende des Empire in Kenia und auf der malaiischen Halbinsel – stets bildete die rassistische Gesinnung das Fundament für die britische Machtausübung. Das Framing der Kolonisierten als faul, anders und kriminell lieferte die Rechtfertigung für ihre Disziplinierung mittels Versklavung, Ausbeutung, Zwangsassimilation und Bestrafung.

Black Lives Matter Protest in London, 6. Juni 2020

Tatsächlich rechtfertigte man so die Kolonisierung überhaupt, weil man unterstellte, die Kolonisierten seien gar nicht fähig, eine unabhängige Regierung zu bilden. Deshalb sollte es uns nicht verwundern, dass diejenigen, die seit Juni gegen Rassismus auf die Straße gehen, Statuen von Sklavenhändlern wie Edward Colston (in Bristol), von Kolonialisten wie Cecil Rhodes (in Oxford) und von mächtigen Wortführern des Imperialismus wie Winston Churchill (in London) attackieren. Sie haben Großbritannien das Eingeständnis abgerungen, dass der Rassismus nicht mit der Migration von Schwarzen Menschen im 20. Jahrhundert begonnen und dass er kein Phantàsien der kulturellen Homogenität und des sozialen Friedens aufgemischt hat. In Wahrheit begann der Rassismus, als die Briten in den Rest der Welt einfielen, und zwar nicht als Migrant*innen auf der Suche nach einem besseren Leben, sondern mit imperialer Gier nach Land, Ressourcen, Macht und Reichtum.

Politischer Widerstand der Schwarzen Bevölkerung im britischen Kernland

Die Einwanderung aus den karibischen, afrikanischen und asiatischen Kolonien war der Rettungsanker für den Wiederaufbau Großbritanniens nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere für die Instandhaltung des Verkehrsnetzes und die Gründung des öffentlichen Gesundheitsdienstes NHS. Doch zusammen mit den kolonisierten Untertanen und Einwander*innen aus ehemaligen Kolonien kamen auch das rassistische Gedankengut und die Unterdrückungsmethoden, mit denen sie in den Kolonien beherrscht wurden, nach Hause ins „Mutterland“. „Keine Hunde, keine Schwarzen, keine Iren“ stand in den Fenstern von Häusern, in denen Zimmer zur Miete angeboten wurden. Und bei der Wahl 1964 errang die konservative Partei einen Sitz mit dem Slogan: „Ein 'Farbiger' als Nachbar? Mit Labour ist es machbar!“ [„If you want a coloured for a neighbour, vote Labour!”]. Die Ausbeutung von Schwarzen und asiatischen Arbeitskräften war gang und gäbe. Niedriglöhne und schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen für Frauen südasiatischer Herkunft führten in den 1970er-Jahren zu einem legendären Streik im Filmkopierwerk Grunwick im Londoner Westen. Die schärfste Waffe des Rassismus blieb jedoch die Kriminalisierung. Die eingewanderten Schwarzen wurden als blinde Passagier*innen, Zuhälter*innen, Drogenhändler*innen, Straßenräuber*innen, politische Extremist*innen und kriminelle Banden verunglimpft. Dies führte zu verstärkten Polizeikontrollen in Schwarzen Wohngegenden, wo vermeintlich „verdächtige“ junge Schwarze gemäß den „Sus laws“ [Anm. d. Übers.: Sus von suspected] der 1970er- und 1980er-Jahre von der Polizei nach Gutdünken festgenommen werden konnten.

Barbara Grey neben "Keep Britain White" Graffiti, Balham 1974
Aktivistin Barbara Grey, Balham 1974, (c) Neil Kenlock

Der Rassismus vonseiten der Regierung und der Polizei stärkte wiederum rechtsextreme Gruppen, die die Straßen mit rassistischer Gewalt überzogen. Regelmäßig wurden Wohnungen und Geschäftsräume von Schwarzen und Asiat*innen zu Zielscheiben von Faschisten, etwa der National Front. Nachdem es in New Cross im Südosten Londons zunächst eine Serie von Angriffen auf Schwarze Menschen und ihre Häuser gegeben hatte, ging dort im Februar 1981 ein Haus in Flammen auf, in dem gerade ein sechzehnter Geburtstag gefeiert wurde. Dabei kamen dreizehn Schwarze Jugendliche ums Leben. Gleichwohl weigerte sich die Polizei, dem Verdacht der Brandstiftung nachzugehen oder die Sorge vor einem weiteren rassistischen Brandanschlag in diesem Stadtteil ernst zu nehmen. In den Wochen danach reisten Gruppen Schwarzer Aktivist*innen durchs ganze Land und mobilisierten für Demonstrationen gegen den Rassismus der Rechtsextremen und der Polizei. Bis zu den Black-Lives-Matter-Demonstrationen 2020 blieben dies die größten antirassistischen Protestaktionen in Großbritannien. Und es war nicht die einzige Mobilisierung gegen den Rassismus in jenem Jahr. Im Frühjahr 1981 brachen in mehreren englischen Städten Unruhen aus. Junge Menschen wehrten sich gegen die „Sus laws“, die ihre Wohnviertel kaputt gemacht hatten. Mit dieser Mixtur aus antirassistischen Organisationen, Massendemonstrationen und spontanem Aufruhr wurden die 1970er- und 1980er-Jahre endgültig zu der Ära, in der sich die Schwarzen als Teil von Großbritannien behaupteten, weil sie vor dem Rassismus im Land nicht kapitulieren wollten.

Institutioneller Rassismus und das britische Strafjustizsystem

In der Folgezeit sah sich die britische Regierung gezwungen, mit etwas mehr Ernsthaftigkeit gegen Rassismus vorzugehen. Sie verabschiedete neue Gesetze und Strategien gegen rassistische Diskriminierung und bekannte sich offiziell zu einem multikulturellen Staat. Als die Polizei 1993 nach dem rassistischen Mord an dem Schwarzen Jugendlichen Stephen Lawrence untätig blieb, nahm eine lokale Kampagne deren strukturellen Rassismus aufs Korn. Diese Kampagne führte zum Macpherson-Bericht, der 1999 veröffentlicht wurde. Es zeigte sich, dass rassistische Polizeikontrollen nicht nur das Werk einzelner Rassisten, sondern im Strafjustizsystem verankert sind, sodass schon die ganz normale Polizeiarbeit rassistische Effekte hat.

Doch alle Reformen, Ermittlungen und Veränderungen im Bereich der Polizeistrukturen haben stets nur oberflächliche Erfolge erzielt. Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts werden Schwarze Menschen immer noch bis zu zwölfmal häufiger von der Polizei angehalten und durchsucht und sie werden häufiger wegen Drogendelikten verhaftet und angeklagt als ihre weißen Mitbürger*innen. In einem Zeitraum von 30 Jahren hat sich die Zahl der Inhaftierten in Großbritannien fast verdoppelt. Heute landen Schwarze Menschen genauso häufig im Gefängnis wie Afroamerikaner*innen in den USA. Verstärkt wird dieses rassistische Polizeisystem durch einen „Antiterrorkrieg“ gegen echte und vermeintliche Muslim*innen, einen „Antibandenkrieg“, der sich überwiegend gegen Schwarze Bevölkerungsgruppen richtet, und eine Politik der „feindlichen Umgebung“, die unter anderem dazu führt, dass die Zahl der inhaftierten Personen ohne Papiere enorm ansteigt. In dieser Situation betritt Black Lives Matter UK die Bühne. Die Bewegung begründet ihren Standpunkt damit, dass das Polizei-, Gefängnis- und Grenzregime reformunfähig ist und radikale Aktionen notwendig sind.

Black Lives Matter UK – Geschichte und Forderungen der Bewegung

Nachdem 2014/15 in Ferguson, Baltimore und New York Schwarze Menschen von der Polizei ermordet worden waren, flammten überall in den USA Proteste auf. Auch in britischen Städten wurden Demonstrationen organisiert. Die Protestierenden zogen zu Hunderten durch Shoppingmeilen, besetzten die Konsumtempel und gewannen die Aufmerksamkeit der Presse und anderer Aktivist*innen. Während die britischen Medien stets ausführlich über Mord und Rassismus vonseiten der US-amerikanischen Polizei berichten, wird über ähnliche Todesfälle durch britische Polizeikräfte oft weniger kritisch informiert. Die Solidaritätsdemos für die USA waren für die Aktivist*innen eine Möglichkeit, auf die Polizeigewalt in Großbritannien aufmerksam zu machen. Die Hinterbliebenen von Opfern wie Mark Duggan und Sean Rigg schlossen sich den Demonstrationen an und berichteten der anwesenden Menge, wie ihre Angehörigen durch die britische Polizei zu Tode gekommen waren und welchen Kampf sie führen müssen, um Gerechtigkeit zu erlangen. 2016 wurde Black Lives Matter UK gegründet. Die Gruppe protestiert mit direkten Aktionen gegen die Abschiebung von Migrant*innen, Morde durch Polizeikräfte und den Ausbau des Strafvollzugs in Großbritannien. Als Protest gegen Umweltverschmutzung und Klimawandel, unter denen Schwarze Bevölkerungsgruppen und der gesamte globale Süden unverhältnismäßig stark zu leiden haben, blockierten sie Hauptstraßen, Verkehrsnetze und sogar einen Flughafen. Sie stellten radikale Forderungen: Schluss mit den Abschiebungen, Schluss mit der Inhaftierung von Einwander*innen, Schluss mit den Personenkontrollen durch die Polizei, Gerechtigkeit für alle, die durch Polizeikräfte getötet wurden. Als die Demonstrationen nachließen, engagierten sich die Organisator*innen von BLM UK in Nachbarschafts- und Bildungsprojekten an der Basis. Diese Arbeit macht keine Schlagzeilen und viele Zeitungen nahmen an, die Gruppe sei in Tiefschlaf verfallen oder habe sich aufgelöst. Aber die Workshops in Schulen und Jugendclubs, die solidarische Zusammenarbeit mit anderen Kampagnen für bezahlbare Mieten, für die Rechte von Migrant*innen und für Klimagerechtigkeit waren eine wichtige Vorbereitung für weitere Schritte, die nun folgen sollten.

Black Lives Matter Protest in London, Juli 2016

Niemand hatte die Solidaritätsproteste für Black Lives Matter 2020 vorausgeahnt. Doch überall im Land strömten mehr Menschen zusammen, als man in Großbritannien je zuvor bei einer Demonstration gegen Rassismus gesehen hatte. Und so kamen neue, radikalere Forderungen auf, zum Beispiel, die Budgets der Polizei zusammenzustreichen. Dem Beispiel der Vereinigten Staaten folgend hat Großbritannien sein Strafvollzugssystem massiv ausgebaut und die Polizei mit immer mehr Macht und Waffen ausgestattet. Gerechtfertigt wurde all dies mit rassistischen Kampagnen gegen rassifizierte Bevölkerungsgruppen, die man verdächtigte, Banden, Terroristen und „illegalen“ Einwander*innen Unterschlupf zu gewähren. Und genau wie in den USA hatte diese Aufblähung der Polizei und des Strafvollzugs keinerlei positive Effekte für die öffentliche Sicherheit. Polizei und Haftsystem wurden x-mal verändert, es wurden Kontrollbehörden geschaffen und alles genau durchleuchtet. Doch nach jahrzehntelangem Ausbau blieb nur ein Fazit: Polizei und Strafvollzug sind nicht reformierbar.

Soziale Dienstleistungen statt Gefängnisse

Die Polizei ist nicht nur ineffektiv, wenn es darum geht, gesellschaftlichen Schaden zu mindern. Durch ihre Personenkontrollen, Festnahmen, Razzien, Verhaftungen und ihre brutalen Verbrechen, für die sie nur selten zur Rechenschaft gezogen wird, trägt sie auch zu mehr Gewalt im sozialen Umfeld bei. Die Aktivist*innen von Black Lives Matter begannen, über Abschaffung zu sprechen – wie sähe eine Welt aus, in der keine Polizei und keine Gefängnisse mehr gebraucht würden? Presse und Politik verdrehten dies absichtlich in eine Forderung nach sofortiger Auflösung der Polizei und der Gefängnisse, doch Black Lives Matter plädiert für Reformen, die dazu führen würden, dass wir bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme weniger auf sie angewiesen sind.

Eine ihrer Forderungen lautet: Investitionen in die Jugendhilfe. Im Zuge des britischen Sparprogramms, mit dem nach der Bankenrettung 2008 die öffentlichen Ausgaben gekürzt wurden, waren mehr als 750 Jugendclubs geschlossen worden. Die Jugendbetreuer*innen, die ihren Job verloren, sind wichtige, vertrauenswürdige Erwachsene, die benachteiligten Jugendlichen helfen können, wenn sie psychische Probleme haben, zu Hause missbraucht oder misshandelt werden oder wenn sie unter Druck gesetzt werden, sich an kriminalisierten Aktivitäten zu beteiligen. Sie können frühzeitig intervenieren, bevor junge Menschen Bekanntschaft mit dem Strafjustizsystem machen. Menschen mit besonderem Förderungsbedarf oder psychischen Problemen, Überlebende von Kindesmissbrauch oder Kindesmisshandlung, Menschen, die von der Schule verwiesen wurden oder erfahren haben, was Obdachlosigkeit bedeutet, landen mit höherer Wahrscheinlichkeit irgendwann im Gefängnis. Diese Menschen einzusperren bedeutet nicht nur, die tieferen Ursachen der gesellschaftlichen Probleme zu ignorieren – sie werden dadurch weiter verschärft. Kürzungen bei der psychischen Gesundheitsversorgung, Gewerkschaftsarbeit, Sozialfürsorge, Weiterbildung und Hochschulausbildung, beim Schutz vor häuslicher Gewalt, dem sozialen Wohnungsbau und einer Reihe anderer unabdingbarer öffentlicher Dienstleistungen haben dazu geführt, dass einkommensschwache und benachteiligte Menschen nicht die Unterstützung erhalten, die sie brauchen.

Die Forderung der Black-Lives-Matter-Aktivist*innen nach Beschränkung der Macht von Polizei und Strafvollzug zielt zugleich auf die Stärkung kommunaler Dienste und Sozialleistungen ab, um Gewalt und andere schädliche Einflüsse schon im Keim zu ersticken. Die Polizei ist nicht reformierbar. Nur wer sich eine Welt vorstellen kann, in der sie überflüssig ist, kann soziale und politische Forderungen für den Aufbau einer Gesellschaft stellen, die nicht nur antirassistisch ist, sondern Frieden und Gerechtigkeit für alle bereithält.

 

Übersetzung aus dem Englischen: Marion Schweizer, Textpraxis Hamburg. Hier finden Sie die Originalversion auf Englisch, die am 8. Juli 2020 erschienen ist.