Vor 36 Jahren wurde das Buch "Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte" veröffentlicht, das bis heute als Standardwerk der afrodeutschen Frauenbewegung gilt. Im Interview beschreibt die Mitherausgeberin, Autorin und Historikerin Katharina Oguntoye die Entstehungsgeschichte und die Rolle, die es für aktuelle Rassismusdebatten und die heutige Schwarze Bewegung in Deutschland spielt.
Safiye Can und Hakan Akçit: Liebe Katharina, du bist Schriftstellerin, Historikerin, Aktivistin und gemeinsam mit Dagmar Schultz und der Dichterin May Ayim Mitherausgeberin des Buches Farbe bekennen, das als erstes Buch rassistische Alltagserfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland beschreibt und bis heute als Standardwerk gilt. Wie entstand die Idee zum Buch und wie gestaltete sich eure Zusammenarbeit?
Katharina Oguntoye: Das Buchprojekt begann als May Ayim und ich gefragt wurden, ob wir ein Buch zu unserer Lebenserfahrung machen wollten. Audre Lorde und der Orlanda Verlag machten den Vorschlag gemeinsam mit Audre Lorde ein Buch zu machen, da sie es total wichtig fand uns diese Plattform zu eröffnen. Das war typisch für Audre Lorde, dass es ihr wichtiger war ein gemeinsames Projekt zu initiieren, statt ihren eigenen Ruhm im Blick ein weiteres Buch zu veröffentlichen. May und ich waren geschockt. Wir waren Anfang Zwanzig und bisher keineswegs als Rednerinnen oder ähnliches aktiv. Wir gingen nach Hause und kämpften jeweils mit der Entscheidung. Sollten wir es wagen in das Rampenlicht zu treten? Könnten wir uns zutrauen für eine ganze Bevölkerungsgruppe als Sprachrohr aufzutreten? Es war sehr schwer, aber nach knapp einer Woche haben wir uns zu einem Entschluss durchgerungen.
Ich glaube diese lange Findungsphase, die gründlichen Überlegungen und die anschließenden gemeinsamen Diskussionen haben dazu beigetragen, dass „Farbe bekennen“ bis heute viele Antworten auf die Fragen nach der afrodeutschen Erfahrung und Identität gibt. Und bis in die Gegenwart für Afrodeutsche bei ihrer Suche nach Verortung hilfreich ist.
Wir haben zwei Jahre in wöchentlichen Treffen das Projekt entworfen und recherchiert. Wir führten Interviews und suchten nach geeigneten Beiträgen um ein rundes Bild unserer Lebenssituationen entstehen zu lassen. Wir sprachen auch über die Repräsentanz von Männern. Es war die Zeit der Frauenbewegung und deshalb war es wichtig ein Buch mit Frauen zu machen. Wir waren uns sicher, dass ein Buch über die spezifische Erfahrung der jungen Schwarzen Männer im Anschluss entstehen würde. Dieses Buch kam nie, aber schon bei der ersten Lesung in München stellten wir fest, dass die Inhalte von jedem und jeder von uns Afrodeutschen gelesen werden konnten. Die Namen und das Geschlecht waren für das Verständnis von „Farbe bekennen“ nicht entscheidend.
Mittlerweile gibt es mehrere afrodeutsche Biographien von Männern und Frauen, aber am stärksten drückten sich die afrodeutschen jungen Männer über das Medium der Rapmusik aus.
Mittlerweile ist das Buch in einer Neuauflage im Orlanda Verlag erschienen. Welche Impulse hat das Buch deiner Meinung nach im Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus gegeben? Welche Bedeutung hat es für die afrodeutsche Bewegung?
Die Wirkung von „Farbe bekennen“ lässt sich so beschreiben: Das Buch und kurze Zeit später die Zeitung „Afro Look“ boten den Afrodeutschen einen Anlass und Impuls miteinander in Kontakt zu treten und sich gemeinsam zu organisieren. Das Buch erschien im Oktober 1986. Bereits im Dezember gab es in Berlin das erste Bundestreffen. In Wiesbaden und Frankfurt a.M. hatten die ersten Gruppentreffen schon einige Monate vorher stattgefunden. Die ISD (Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland) und die ADEFRA (Schwarze Frauen in Deutschland) wurden gegründet.
Im Laufe des Prozesses der Buchentstehung entwickelten wir den Begriff „afrodeutsch“, der in der Folge durch den Begriff „Schwarze Deutsche“ ergänzt wurde. Wir wählten diese Begriffe als Selbstbezeichnungen um die überholten, stigmatisierenden Fremdbezeichnungen abzulösen. Ein Erfolg der afrodeutschen Bewegung ist, dass es uns gelungen ist, auch wenn es 20-25 Jahre brauchte, die neuen Begrifflichkeiten in der breiten Öffentlichkeit einzuführen und die veralteten Termini abzulösen. Der eigene Name ist wichtig, durch ihn setze ich mich in Beziehung.
Durch „Farbe bekennen“ und den historischen Zeitzeuginnen-Bericht der Schwestern Erika und Doris Diek gelang es, die afrodeutsche Erfahrung sichtbar zu machen und den Start für die Erforschung der geschichtlichen Hintergründe auszulösen. Als Historikerin bin ich fasziniert von den Kettenreaktionen und den Synergieeffekten, die durch unser Buch in Gang gebracht wurden. Zwar ist es wichtig zu wissen, dass diese Ergebnisse nicht über Nacht entstehen. Es braucht viel Einsatz, Ausdauer und die Beiträge sehr vieler Menschen, aber dann sind Veränderungen möglich. Das kann ich aus eigener Anschauung bezeugen.
Wie bewertest du den Umstand, dass im Jahr 2022 und 36 Jahre nach der ersten Veröffentlichung von Farbe bekennen das Thema Rassismus nichts an Aktualität eingebüßt hat?
Dass „Farbe bekennen“ immer noch wertvolle Arbeit leisten kann, finde ich super. Da haben wir wohl etwas richtig gemacht. Dass das Thema Rassismus jetzt im Mainstreamdiskurs angekommen ist, werte ich als Erfolg. Offensichtlich kann vorher nicht bestimmt werden, wann das Fass überläuft, also letztendlich die grundsätzlichen Veränderungen eintreten. Es ist aber ganz entscheidend, dass wir unsere Arbeit tun und am besten auch mit Liebe und Leidenschaft aktiv sind, denn ohne die Arbeit der Vielen außerhalb der Institutionen (Graswurzel-Organisationen) wäre dieser Erkenntnisgewinn im Mainstream nicht möglich beziehungsweise müssten jetzt noch so viele grundsätzliche Erkenntnisse erarbeitet werden.
Da diese Arbeit aber geleistet wurde, und hier bildet „Farbe bekennen“ einen Teil, konnte die Black Lives Matter-Bewegung in Deutschland auf einem guten Fundament aufbauen. Für eine langfristige Verstetigung der antirassistischen Bewegung ist die Qualität der Auseinandersetzung entscheidend. Bis vor einigen Jahren wurden wir noch überhaupt nicht gesehen oder ernst genommen, weder als Schwarze Menschen in Deutschland noch mit der Antirassismus-Arbeit.
Seit 1997 gibt es in Berlin den Verein Joliba, der eine wichtige Anlaufstelle für BIPOC in Berlin ist und den du gegründet hast. Kannst du uns über die alltägliche Arbeit von Joliba e.V. berichten? Wie unterstützt und fördert ihr Schwarze Menschen?
Die Arbeit des Joliba e.V. ist meinem Herzen sehr nahe. Vor allem die Beiträge so vieler unterschiedlicher Menschen beeindruckt mich immer noch sehr. Wir könnten sagen es ist eine interkulturelle Gemeinschaft entstanden und ich habe das Glück, dass es ein Team junger Menschen gibt, die das Konzept in die Zukunft überführen. Sie setzen die Arbeit professionell fort und machen das Projekt zu ihrem eigenen.
Anlass zur Gründung des Joliba e.V. war der Wunsch, fachlich fundierte soziale Angebote für Schwarze Menschen, afrodeutsche Kinder und ihre Familien anzubieten. Da wir gesellschaftlich nicht wahrgenommen wurden, war der Aufbau des Projektes sehr schwierig. Immer wurde die Frage gestellt, wozu es einen eigenen Verein brauche. Unsere Kinder als auch Klient*innen mit Fluchterfahrung haben oft traumatische Erfahrungen wie Trennung, Ausgrenzung aufgrund von Hautfarbe und Kultur und gesellschaftlicher Isolierung. Das war der erste Grund, warum wir erkannten, dass wir eigene Räume brauchen. Einen Raum, mit dem sich alle positiv identifizieren können, der also eine gute Ausstrahlung hat und aus dem wir nicht gleich wieder herausgedrängt, vertrieben würden.
Das mag sich banal anhören, aber zu dieser Zeit waren Räume oft nicht angenehm, eher heruntergekommener baulicher Zustand, ohne Investition in die Ausstattung und somit mit sehr niedrigem Standard. Es war mir aber wichtig eine positive Identifikation zu ermöglichen, davon abgesehen, dass wir ja einen Großteil unserer Zeit am Arbeitsplatz verbringen und daher Wert auf die positive Energie legen sollten.
Ein weiterer Aspekt unserer Arbeit entstand, weil ich nicht aus der Sozialarbeit kam und deshalb viele Projekte der Bildungsarbeit umsetzen wollte. Neben den professionellen Beratungs- und Hilfsangeboten haben wir Kultur- und Bildungsprojekte umgesetzt, hier durch entstanden Synergieeffekte und Empowerment für unsere Teilnehmenden und Klient*innen. Dies wird auch von meinen Nachfolger*innen weitergeführt. Für die aufsuchenden Familienhilfen hat unsere Koordinatorin ein tolles Konzept entwickelt, bei dem ein Tandemteam aus Sprachmittler*in und sozialpädagogischer Fachkraft sowie umfangreicher kollegialer Beratung die sehr schwierige Betreuung der afrikanischen Familien und Familien mit Fluchterfahrung erfolgreich umsetzt.
Ich freue mich in den nächsten Jahren sehen zu können, welche weiteren Ideen im Joliba entstehen und wie die Gemeinschaft im und um das Projekt Joliba herum weiterwächst und stärker wird.
Du wurdest 2020 mit dem Preis für Lesbische Sichtbarkeit des Landes Berlin und kürzlich mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Was bedeuten dir diese Auszeichnungen?
Diese Auszeichnungen sind eine große Ehre für mich und ich verstehe sie als Anerkennungen für die langandauernde Arbeit, die ich gemeinsam mit anderen geleistet habe. Daher sind das auch Anerkennungen für die Teams, in denen ich mich engagiert habe, in der antirassistischen Arbeit, beim Joliba e.V., in der Frauen- und Lesbenbewegung und in der afrodeutschen Bewegung. Ehrlich gesagt habe ich nicht mit einer solchen Anerkennung zu meinen Lebzeiten gerechnet, umso schöner, dass es passiert ist.
Aktuell läuft ein Crowdfunding, das du gestartet hast. Was ist mit den Einnahmen geplant?
So toll die Anerkennung meiner Arbeit und Engagements in den letzten Jahren ist, so verwirrend ist für mich, dass ich parallel mit gesundheitlichen Herausforderungen zu kämpfen habe. Bisher war ich körperlich meistens sehr fit und konnte Krankheiten relativ rasch überwinden. Umso verrückter kam es mir vor, dass ich nach einer heftigen Krebserkrankung, die glücklicherweise zunächst ausgeheilt ist, sehr stark in meiner Mobilität eingeschränkt bin, da meine Hüft- und Armgelenke in den letzten zwei Jahren immer weiter kaputtgingen. Ich bin daher auf einen Rollstuhl und eine barrierefreie Wohnung angewiesen. Für den Umbau einer Wohnung wird das Crowdfunding gebraucht. Es ist für mich wie eine weitere Auszeichnung, dass so viele Menschen mich hier unterstützt haben. Dank dafür.
Zwischendurch war ich auch mal ganz down, aber dann bin ich meinem Motto treu geblieben, dass ein positiver Ausblick die bessere Art zu leben ist. Ich werde nicht aufgeben und lieber danach schauen, wie ich mich einbringen und einen Beitrag für eine bessere Welt leisten kann. Die Hoffnung mit anderen zu teilen und das Licht in den Augen des Gegenübers zu sehen ist das Beste, was uns geschehen kann.