Weltflüchtlingstag 2024: Gegensteuern vor dem Schiffbruch

Kommentar

Migration und Flucht stehen in der EU seit längerem wieder ganz oben auf der Agenda. Dabei geht es weniger darum, Probleme zu lösen und das Leid der Menschen auf der Flucht zu adressieren, sondern vor allem darum zu verhindern, dass Geflüchtete ihren Fuß auf europäischen Boden setzen. Das schadet den Schutzsuchenden und dem politischen Klima. 

Teaser Bild Untertitel
Verlassenes Flüchtlingsboot, Lesbos (Griechenland)

Das rechteste Europaparlament aller Zeiten

Dieser Trend lässt sich auch an der jüngsten Europawahl ablesen: Das Ergebnis ging zulasten demokratischer Kräfte, die Parteien des rechten Spektrums gehen als deutliche Sieger aus dieser Wahl hervor. Auch wenn sich die Koalitionen und die genauen Kräfteverhältnisse erst noch bilden müssen, ist jetzt schon klar, dass das Europaparlament deutlich nach rechts gerückt ist. Bislang war das Parlament auf EU-Ebene ein wichtiges politisches Gegengewicht zum Rat, es wird sich zeigen, welche Mehrheiten in Zukunft wie agieren werden - aber dass diese Wahl uns allen ein Weckruf sein sollte, steht bereits fest.

Migration war unter den wichtigsten Themen, die Bürgerinnen und Bürger in allen Mitgliedstaaten bewegten. In Frankreich, wo der rechtsnationale Rassemblement National 31,4 Prozent der Stimmen gewann, nannten 43 Prozent der Wählerschaft Einwanderung als entscheidendes Thema für ihre Stimmabgabe

Auch in Deutschland stand Migration weit oben auf der Agenda der Themen, die Wählerinnen und Wähler als am wichtigsten bewerteten. Und in den beiden einwohnerstärksten EU-Mitgliedstaaten verzeichnete die extreme Rechte die größten Zugewinne, in Frankreich konnte sie sogar die Wahlen gewinnen. 

Migration und Flucht: der globale Überblick

Grundsätzlich geht die Bedeutung, die Menschen in Europa dem Thema beimessen, mit einer gestiegenen globalen Relevanz von Migration und Flucht einher. Anlässlich des Weltflüchtlingstages veröffentlicht das UN-Flüchtlingshilfe (UNHCR) auch in diesem Jahr mit mehr als 117,3 Millionen weltweit Geflüchteten erneut einen traurigen Rekord, ein Anstieg von 5% im Vergleich zum Vorjahr.

Allerdings musste auch in 2023 die große Mehrheit dieser Menschen innerhalb ihres eigenen Landes fliehen, als sogenannte Binnenvertriebene (engl. IDP – internally displaced people). Des Weiteren sucht die große Mehrheit derer, die ihr Heimatland verlassen, Schutz in Staaten mit niedrigem oder mittlerem Einkommen und in 7 von 10 Fällen in Nachbarstaaten. Die wichtigsten drei Herkunftsländer aller Geflüchteten weltweit waren auch letztes Jahr wieder die von Krieg und schweren Konflikten gezeichneten Staaten Syrien, Afghanistan und die Ukraine. Angesichts der globalen Lage darf es nicht überraschen, dass auch die Zahl derer, die Europa auf der Suche nach Schutz erreicht haben, angestiegen ist. Vor diesem Hintergrund wäre ein Ringen um die besten Lösungen und die Frage, wie die EU angesichts zunehmender Kriege und Krisen weltweit ihrer Verantwortung zum Flüchtlingsschutz gerecht werden kann, angemessen. 

Ein toxischer Diskurs in Europa 

Was wir stattdessen seit längerer Zeit und im Vorfeld der Europawahl in besonderem Maße erleben, ist jedoch das genaue Gegenteil: eine zunehmende Polarisierung bei den Themen Migration und Flucht und eine sukzessive Hinwendung zu einer Politik der Migrationsabwehr. Das Grundrecht auf Asyl wird immer unverhohlener von Einzelnen in Frage gestellt. Die Frage, wie Europa Menschen effektiver den ihnen zustehenden Schutz gewähren kann, wird praktisch vollständig durch die Frage ersetzt, wie die EU-Außengrenzen vor der vermeintlichen Bedrohung durch Geflüchtete zu schützen seien.

Die GEAS-Reform

Im April ist nach jahrelangem erfolglosen Ringen um eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ein Gesetzespaket mit weitreichenden Folgen für Menschen auf der Flucht verabschiedet worden: Künftig soll durch Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen unter haftähnlichen Bedingungen entschieden werden, wer ein Anrecht auf ein Asylverfahren hat. Die sogenannte „Krisenverordnung“ sieht vor, dass in Zeiten von „höherer Gewalt“ oder „Instrumen­talisierung“ das Recht auf Asyl zusätzlich eingeschränkt werden kann, inklusive einer noch längeren Inhaftierung Geflüchteter in Grenzverfahren. Zudem soll das Konzept sogenannter „sicherer Drittstaaten“ ausgeweitet werden, was zu weiterer und weitreichender Externalisierung von Flüchtlingsschutz außerhalb der EU führen dürfte.

Die Externalisierungsbemühungen der EU-Institutionen und Mitgliedstaaten sind ohnehin schon länger in Gange. Nach dem viel kritisierten „Migrationsabkommen“ mit Tunesien, sind nun auch Ägypten und neuerdings sogar der Libanon „strategische Partner“ der EU im Sinne des „Migrationsmanagements“. Ob und, wenn ja, an welche Bedingungen diese Abkommen mit Ländern geknüpft werden, in denen Menschenrechte mit den Füßen getreten werden, ist unklar, ebenso wie die Frage, was genau Bestandteil der Abkommen bzw. der engeren Zusammenarbeit sein soll. Was diese Vorhaben eint, ist, dass seitens der EU viel Geld an Drittstaaten fließen soll und das Wohl von Migrant*innen und Flüchtlingen dem Ziel untergeordnet wird, die Zahl der Ankünfte in der EU zu verringern. Dabei finden die Externalisierungsbemühungen der EU parallel zu bilateralen Initiativen einzelner Mitgliedstaaten statt, wie im Falle Italiens und Albaniens. Auch das deutsche Bundesinnenministerium ließ kürzlich prüfen, inwiefern eine Auslagerung von Asylverfahren nach Vorbild des britischen Ruanda-Models möglich sei, was die hierzu befragten Sachverständigen verneinten.

Die GEAS-Reform ist unter enormen politischen Druck beschlossen worden, für Außenstehende war der komplexe und intransparente Verhandlungsprozess kaum mehr nachvollziehbar.  Das Ziel stand fest: die Einigung zwischen Rat, Parlament und Kommission sollte unbedingt noch in der letzten Legislaturperiode erfolgen, um die eigene Handlungsfähigkeit auf dem Gebiet unter Beweis zu stellen. Doch der Versuch, den Kräften am rechten Rand damit ihr Wahlkampfthema wegzunehmen, zeigte keinen Erfolg. Was bleibt, ist eine schlechte Reform mit Scheinlösungen, die den Abbau von Menschenrechten vorantreiben.  Der europäischen Einigkeit und dem Zusammenhalt zwischen Mitgliedstaaten ist mit der Beibehaltung des Dublin-Prinzips ein Bärendienst erwiesen. All das stärkt die ‚rechten‘ Narrative weiter, die mit Ängsten Stimmung machen. 

Systematische Rechtsbrüche an den Außengrenzen

Vor einem Jahr plädierte ich anlässlich des Weltflüchtlingstages dafür, der Verantwortung zum Flüchtlingsschutz gerecht zu werden. Damals hatte sich wenige Tage zuvor eines der tödlichsten Schiffsunglücke vor der Küste Griechenlands ereignet. Mit dem Schiffskutter Adriana ertranken in der Nacht zum 14. Juni 2023 über 600 Menschen, da keine Bergungsarbeiten stattfanden, bleibt die genaue Zahl ungewiss. Zahlreiche Hinweise deuten auf eine Mitschuld der griechischen Küstenwache und der EU-Grenzschutzagentur Frontex hin, so beispielswiese die gemeinsame Recherche von Solomon, Forensis, The Guardian und der ARD, die dafür mit dem zweiten Platz des Europäischen Presse Preises ausgezeichnet wurden. Bis heute sind die genauen Umstände des Schiffsunglück nicht geklärt. Während neun Überlebende monatelang unschuldig in Untersuchungshaft saßen, weil sie fälschlicherweise der Schlepperei bezichtigt wurden, sind die eigentlichen Verantwortlichen bis heute nicht identifiziert, geschweige denn zur Rechenschaft gezogen worden. 

Das Schiffsunglück vor Pylos ist leider kein Einzelfall, sondern nur ein besonders extremes Beispiel für die systematische Gewalt an den EU-Außengrenzen. Die BBC zeigt in einer jüngst veröffentlichten Videodokumentation, wie die griechische Küstenwache allein in den letzten drei Jahren den Tod von Dutzenden von Geflüchteten im Mittelmeer zu verantworten hat. Laut BBC Analyse habe die Praxis, Menschen aus griechischen Gewässern zu verdrängen bzw. von griechischen Inseln einzusammeln, um sie dann – mitunter an den Händen gefesselt – ins Meer zu werfen, nachweislich mindestens 43 Menschen das Leben gekostet. 

Die jüngst wiedergewählte EP-Abgeordnete Tineke Strik forderte im Zusammenhang mit dieser BBC Recherche die Kommission in einem Statement auf „X“ auf, den griechischen Premierminister Mitsotakis vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Die Verbrechen und brutalen Verstöße gegen EU-Recht, so Strik, werden nun schon seit Jahren toleriert, gedeckt von der Kommission und anderen EU-Mitgliedstaaten. 

Tatsächlich kommt den Gerichten eine wichtige Rolle als Korrektiv im Sinne der Rechtsstaatlichkeit zu. Kürzlich hat der Europäische Gerichtshof Ungarn zu einer Geldstrafe von 200 Millionen Euro verurteilt, verbunden mit einer weiteren Million Euro für jeden weiteren Tag, an dem es den Forderungen eines EuGH-Urteils vom Dezember 2020 nicht nachkommt und geltendes EU Asylrecht nicht anwendet.

Auch was die Kriminalisierung von Geflüchteten betrifft, ist Pylos keine Ausnahme. Ein Beispiel ist Homayoun Sabetara. Der Geflüchtete ist seit August 2021 trotz ernsthafter Erkrankung inhaftiert, ihm drohen bis zu 18 Jahre Haft wegen ‚Menschenschmuggel‘. Tatsächlich ist der zweifache Familienvater selbst aus dem Iran und über den Evros aus der Türkei nach Griechenland geflohen, in einem Auto, an dessen Steuer er mit zwei weiteren Insassen saß. Seine Festnahme beruht ausschließlich auf einer schriftlichen Aussage eines Zeugen, der seitdem nicht mehr aufzufinden ist. Vor wenigen Wochen fand vor dem Gericht in Thessaloniki sein Berufungsverfahren statt, der Prozess wurde auf September vertagt, bis dahin muss Homayoun Sabetara weitere Monate in Haft ausharren, trotz seines dramatischen Gesundheitszustands. Homayouns Fall ist leider keine Ausnahme und Griechenland ist auch nicht das einzige EU-Mitgliedsland, in dem Geflüchtete systematisch kriminalisiert werden: Es gibt zahlreiche ähnlich kafkaeske Fälle aus Italien oder Malta und eine große Zahl an Fällen, die nicht bekannt sind, weil es keine Kampagne zur Freilassung der Betroffenen gibt wie im Falle von #freehomayoun.

Lösungsorientierte Ansätze statt populistischer Scheinlösungen

Der Versuch Flüchtlingsschutz abzubauen, um den Rechten das Wort zu reden, spielt den toxischen Narrativen offensichtlich nur mehr in die Hände. Was es braucht, ist eine Kombination aus lebensnahen praktischen Maßnahmen und Politiken und einer Abrüstung und Versachlichung von Sprache und Narrativen. Statt „Abschiebeoffensiven“ zu fordern, wäre es an der Zeit, konstruktive und wirksame Lösungen zu diskutieren. 

Bereits vor der Europawahl zeigte der European Council on Foreign Relations in einer umfassenden Analyse auf, wie zahlreiche Parteien in Europa den Aufstieg rechtsextremer Parteien zu verhindern versuchen, basierend auf Umfragen und Daten. Eine Strategie sei dabei die Übernahme rechter Hardliner-Positionen in Migrationsfragen und zwar sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene, wie beispielsweise mit der GEAS-Reform oder aber in Frankreich mit der jüngsten Asylrechtsreform. Die Autoren beschreiben das als riskante Strategie, die die Wählerinnen und Wähler, die potentiell rechts wählen, nicht umzustimmen vermag, dafür aber die Debatte um Migration aufheizt und damit wiederum den Rechten in die Hände spielt.

Professor Marcel Fratzscher, Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) räumt in einem jüngst veröffentlichten Artikel mit einer Reihe von landläufigen Vorurteilen auf, beispielsweise der Mär von der mangelnden Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten in Deutschland oder dem vermeintlichen „Pullfaktor“ der Sozialleistungen, die in der deutschen Debatte immer wieder aufkommen. Er plädiert für weniger Bürokratie und mehr Unterstützung für Kommunen und Integrationsmaßnahmen, statt zu suggerieren, man könne Migration steuern und eindämmen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des akuten Fachkräftemangels. Das lässt sich auch auf andere EU-Mitgliedstaaten übertragen. 

Die Herausforderungen sind real, sowohl für Geflüchtete als auch für Aufnahmegemeinschaften überall in Europa. Aber keine einzige Kommune in der EU wird dadurch entlastet, dass Menschen in der Ägäis Gewalt angetan wird. Unlängst haben sich 309 Organisationen in einem offenen Brief an Bundeskanzler Scholz gewandt, er möge den Plänen Asylverfahren auszulagern eine Absage erteilen. Sie schreiben: „Als im Flüchtlingsschutz aktive Organisationen und Initiativen wissen wir: Aufnahme und Teilhabe funktionieren, wenn alle an einem Strang ziehen und der politische Wille vorhanden ist.“. 

Wir brauchen tragfähige Lösungen für reale Herausforderungen und – gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Europawahlergebnisse – eine Rückbesinnung auf das Fundament der Europäischen Union, ihre Rechtsordnung und die vielbeschworenen Werte. 


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de