Tabubrüche mit Konsequenzen

heimat.kolumne

Auf Sylt singen junge, wohlhabende Menschen rassistische Hassparolen. Im Land wird ernsthaft über „Remigration“ diskutiert. Gleichzeitig reicht es aber sogar nun den zentralen Parteien der extremen Rechten in Europa mit der AfD. Und die deutsche Top-Etage der Wirtschaft erhebt deutlich ihre Stimme gegen den völkischen Irrsinn.

Graffiti an einer Hauswand, auf hellblauem Hintergrund steht in roter Schrift: L'Amour gagne toujours
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Auf den Song "l'amour toujours" von Gigi D'Agostino werden seit einiger Zeit in Diskotheken oder bei Volksfesten rassistische Parolen gegrölt – wie zuletzt auf der Insel Sylt.

Man schreibt das Jahr 2024. Es ist Spätfrühling. Der sogenannte Wonnemonat Mai macht seinem Namen vordergründig alle Ehre. Aber eben nur vordergründig. „Pfingsten auf Sylt“ hat das Abgründige sichtbar gemacht, welches sich in der deutschen Gesellschaft ausgebreitet hat und immer schamloser gezeigt wird: flagranter Hass auf Menschen mit Migrationshintergrund. Ein fröhlich-dekadenter Mob grölte gutgelaunt auf dieser eigentlich so schönen norddeutschen Insel: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Und zwar ausgerechnet zu einem bereits 2001 erschienenen Hit des italienischen DJs Gigi d’Agostino, der mit dem Titel „l’amour toujours“ die Liebe und gerade nicht den Hass besingt.

„Pfingsten auf Sylt“: Das Eldorado der kaputten Buddenbrooks-Nachkommen

„Pfingsten auf Sylt“ ist die große Party der Dekadenz jener Kinder wohlhabender Eltern mit zu viel Geld und zu viel Zeit, womit sie nichts Sinnvolles machen wollen. Es ist das Eldorado der Söhne und Töchter, die anders als ihre verantwortungsbewussten Pendants, oftmals die Familienunternehmen nicht weiterführen, sondern eher jene Nachfolgegenerationen verkörpern, die ähnlich wie bei Thomas Manns legendären Buddenbrooks das mühsam Aufgebaute dem Verfall anheimgeben.

Wer sich in sehr wohlhabenden Kreisen bewegt oder diese zumindest ganz gut kennt, weiß, dass „Pfingsten auf Sylt“ aus Sicht aller nachdenklichen und wirklich einflussreichen Vermögenden aus Bürgertum und Aristokratie schon immer als dumpfes „Bling-Bling“ verachtet wurde.

„Pfingsten auf Sylt“ ist dennoch – auch und gerade vor der Folie des Maximilian Krah, der übrigens nicht aus ultra-vermögenden Verhältnissen stammt, aber gerade deshalb offenbar gerne auf „dicken Max“ macht – Grund genug, einmal innezuhalten und sich zu überlegen, wie weit rechte, menschenverachtende Parolen längst eingedrungen sind in die Gesellschaft. In weniger betuchten Gegenden in Deutschland gehen sie nicht mit Champagner, sondern mit Bier einher. Und so wurde Gigi d‘Agostinos Song auch schon andernorts in Deutschland rassistisch verballhornt, offenbar auch in AfD-Kreisen oder am vergangenen Freitag auf einem Volksfest in Erlangen.

„Remigration“ – Wie der Hass sich bis nach Sylt ausgebreitet hat

Es ist viel passiert, seit sich mit der AfD 2013 eine neue und seither leider in vielen Wahlen nicht unerfolgreiche Rechtspartei breitgemacht hat. Elf Jahre nach Gründung der AfD reden wir hier und jetzt in Deutschland ernsthaft über „Remigration“ von „nicht assimilierten Staatsbürgern“, so als sei das normal. Angebahnt hat sich das schon lange: „Remigration“ ist sowohl begrifflich als auch konzeptuell in den völkisch-radikalen Kreisen der AfD schon lange ein Thema. Bereits 2018 propagierte Björn Höcke exakt diese Idee in seinem Buch „Nie zweimal in denselben Fluss“, über das ich Anfang 2019 schrieb:

„Ausdrücklich fordert der AfD-Rechtsausleger die ‚konsequente Verhinderung der drohenden Islamisierung Deutschlands und Europas‘ und hält insoweit unter anderem die ‚Rückführung der nichtintegrierbaren Migranten‘ für erforderlich (S. 195).

Dabei differenziert er nicht zwischen Migranten mit und ohne deutschen Pass und schließt somit mindestens implizit Deutsche mit Migrationshintergrund mit ein. Offen bleibt, wer definieren soll, ob jemand ‚integrierbar‘ ist; womit Höcke der Willkür die Türen öffnet.“

Dank des Recherchenetzwerks „CORRECTIV“ mit seinem im Januar 2024 erschienenen Bericht über das Geheimtreffen in Potsdam, auf dem der Österreicher Martin Sellner, der jahrelang das führende Gesicht der „Identitäten Bewegung“ im deutschsprachigen Raum war, das „Remigrationskonzept“ propagiert hat, ist nun evident, wie weit sich die abgründigen Vorstellungen von Höcke und den seinen inzwischen durchgesetzt haben. Sellner zählte laut „CORRECTIV“ in Potsdam auf, wer aus seiner Sicht hierzulande nichts zu suchen habe: „Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und „nicht assimilierte Staatsbürger“. Letztere seien, so „CORRECTIV“ weiter, aus seiner Sicht das größte „Problem“.

Chrupalla reagiert trotzig

Immerhin, die zentralen anderen Parteien der extremen Rechten in Europa, namentlich der französische „Rassemblement National“ (RN) unter Marine Le Pen, die „Fratelli d‘Italia“ unter Georgia Meloni und die „Lega“ unter Matteo Salvini haben nun den Stecker gezogen und die AfD aus der bisherigen Fraktionsgemeinschaft im Europaparlament namens „ID“ aka „Identität und Demokratie“ ausgeschlossen. Anlass war zwar die jüngste SS-Relativierung durch den schrillen Krah, der in seiner Selbstherrlichkeit wieder mal provozieren wollte. Und nicht verstand, wie wenig das angesichts der Gräueltaten der SS gerade in Frankreich und Italien nicht einmal dortigen Rechtsparteien gegenüber geht. Doch die Vorgeschichte ist evident. Immer wieder forderte der „Rassemblement National“ die AfD und namentlich Weidel auf, sich seriös von der „Remigration“ zu distanzieren. Aber das tat sie, die Opportunistin, die das völkische Lager nicht allzu sehr verärgern will, augenscheinlich monatelang nicht. RN-Wahlkampfleiter Loubet sagte dazu nun mit Blick auf die AfD: „Wir hatten offene Gespräche, aber es wurde nichts daraus gelernt. Nun ziehen wir die Konsequenzen.“ Ob das taktisch motiviert ist, um in bürgerliche Kreise eindringen zu können, ist schwer zu sagen.

Das wurde auch Zeit. Genutzt aber hat es nicht viel. Trotzig und quasi fußstampfend wie ein Kleinkind – eigentlich eine Domäne von Alice Weidel reagiert nun die AfD ihres Co-Vorsitzenden Tino Chrupalla. Statt auch nur ansatzweise so etwas wie Demut zu zeigen, ging er, wie die Frankfurter Rundschau berichtet, gleichsam zornig wie peinlich auf dem sächsischen Landesparteitag auf Len Pen und Meloni los, weil diese Krah abgesägt haben. Und sagte: „Für uns stehen immer die deutschen Interessen an erster Stelle“. Und weiter:

„Als Ministerpräsidentin von Italien stehe Meloni für mehr Migration und Waffen für die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland. „Diese Melonisierung wird es mit uns nicht geben“.

Nichts gelernt also. Aber gut. So macht sich die AfD eben weiter lächerlich. Chrupalla ist ganz offenbar derart verstrickt im völkischen Lager, dass er meint, dieses befriedigen zu müssen. In puncto herabgerauschten Umfragewerten dürfte ihm dies wenig nutzen. Ebenso wie dem dumpfen „Volk“ zu „Pfingsten auf Sylt“ irgendein untaugliches Herausreden vor den Strafgerichten nutzen wird. Dass andere Rechtsparteien in Europa nun die AfD absägen, spricht Bände. Womit sie ihrerseits nicht zu verharmlosen sind. Fremdenfeindlich sind und bleiben sie.

Deutsche Wirtschaft positioniert sich klar gegen Rechtsextremismus

Aber es gibt – und das ist noch viel wichtiger – längst Gegenwehr aus den wahren Topetagen der deutschen Wirtschaft. Und zwar aus jenen Kreisen der Wirtschaft, deren CEOS – also Vorstandsvorsitzende – Verantwortungsbewusstsein zeigen und deren Kinder eher nicht „Pfingsten auf Sylt“ feiern. Und diese Gegenwehr ist absolut beeindruckend. Mittwoch vor einer Woche berichtete die FAZ, wie sehr die führenden Unternehmen Deutschlands gegen den Populismus aufstehen. Und zwar die wirklich führenden. Der O-Ton der FAZ lautet:

„Das gab es noch nie: Mehr als 30 deutsche Großunternehmen fordern ihre Beschäftigten auf, bei der Europawahl für Toleranz, Vielfalt und Wettbewerbsfähigkeit zu stimmen. Ausländische Investoren sind schon in Sorge um Deutschland.“

Kurz darauf legten der Siemens- und der Mercedes-Chef nach, und zwar in der FAZ und aufgegriffen vom SPIEGEL. Journalistischer Adel sozusagen. Im scharfen Kontrast zum primitiven Geldadel zu Kampen. „‘Wir müssen jetzt aufstehen und einschreiten‘, sagte Siemens-Chef Roland Busch der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung (»FAZ«)« vom Mittwoch. Extremismus und Rassismus gefährdeten den Zusammenhalt der Gesellschaft. ‚Es werden einfache Antworten auf komplexe Fragen gegeben, Antworten, die so nie funktionieren werden.‘“

Exakt so ist es. Was für ein dummes Konzept ist das Denken in ethnischen „Remigrations“-Klassen bloß. Ich formuliere es bewusst hart: Soll es einen Gen-Test geben? Einen Namenstest? Komme ich als „Bednarz“ aka mit dem polnischen Nachnamen trotz deutscher Familie in einem fiktiven Krah-Deutschland noch klar oder muss ich einen Arier-Nachweis erbringen?

Lieber singe ich „Hello Africa“ von Dr. Alban. Ein Track eines erfolgreichen schwedischen Arztes mit Migrationshintergrund. Ein Lied, das ein paar Jahre vor „L’Amour toujours“ erschienen ist. „Hello Nigeria, that‘s my motherland“. Denn so weit sind Dax-Konzerne, siehe oben, längst gekommen.

Die heimat.kolumne ist ein neues Format auf Heimatkunde. Hier mischen sich die Publizistin Liane Bednarz und der Schriftsteller Hakan Akçit regelmäßig in aktuelle Debatten rund um den Kampf gegen rechts und die Verteidigung der offenen, pluralen Gesellschaft ein. Liane Bednarz schreibt aus einer liberal-konservativen Perspektive mit Fokus auf die Abgrenzung von konservativem und neurechtem Denken, Hakan Akçit schreibt aus einer postmigrantischen Perspektive mit einem Fokus auf die Einwanderungsgesellschaft und den Kampf gegen Rassismus.